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Der Goldene Kompass

Der Goldene Kompass

Titel: Der Goldene Kompass Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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auf den Jungen zu und bleibt eine Stufe über ihm sitzen.
    Dann spürt die Maus etwas. Sie verwandelt sich wieder in einen Spatzen, stellt den Kopf schräg und hüpft über die steinernen Stufen.
    Der Affe beobachtet den Spatzen, der Spatz beobachtet den Affen.
    Der Affe streckt ganz langsam den Arm aus. Seine kleine Hand ist schwarz, die Nägel vollkommen geformte Klauen aus Hörn, die Bewegung sanft und einladend. Der Spatz kann nicht widerstehen. Er hüpft auf den Affen zu, einen Zentimeter, dann noch einen, und dann, mit einem kurzen Flattern, hinauf auf die Hand des Affen.
    Der Affe hält ihn hoch, mustert ihn eingehend, erhebt sich und kehrt mit ihm in der Hand zu der Dame zurück. Die Dame neigt ihr duftendes Haupt und flüstert etwas.
    Und dann dreht Tony sich um. Er kann nicht anders.
    »Ratter!« sagt er alarmiert, mit vollem Mund.
    Der Spatz zwitschert. Also ist er sicher. Tony schluckt und starrt nach oben.
    »Guten Tag«, sagt die schöne Dame im Fuchsmantel. »Wie heißt du?«
    »Tony.«
    »Wo wohnst du, Tony?«
    »Clarice Walk.«
    »Was ist in dieser Pastete?«
    »Beefsteak.«
    »Trinkst du gern Chokolatl?«
    »Au ja!«
    »Zufällig habe ich gerade mehr davon, als ich selbst trinken kann. Willst du mitkommen und mir beim Trinken helfen?«
    Tony ist bereits verloren. Er war in dem Augenblick verloren, in dem sein Dæmon, der etwas langsam von Begriff ist, auf die Hand des Affen hüpfte. Er folgt der schönen jungen Dame und dem goldenen Affen die Denmark Street entlang zum Henkerskai und die King-George-Treppe hinunter zu einer kleinen grünen Tür an der Seite eines großen Lagerhauses. Die Dame klopft an, die Tür öffnet sich, sie gehen hinein, die Tür schließt sich wieder. Tony wird nie mehr herauskommen — zumindest nicht durch diesen Eingang —, und er wird seine Mutter nie mehr sehen. Seine Mutter, die arme Trinkerin, wird glauben, er sei weggelaufen, und wenn sie an ihn denkt, wird sie sich die Schuld geben und herzzerreißend schluchzen.
     
     
    Der kleine Tony Makarios war nicht das einzige Kind, das die Dame mit dem goldenen Affen einfing. Im Keller des Lagerhauses begegnete Tony einem Dutzend anderer Jungen und Mädchen. Kein Kind war älter als etwa zwölf, allerdings wußten die Kinder, die alle aus ähnlichen Verhältnissen wie Tony stammten, ihr genaues Alter meist nicht. Und noch etwas hatten alle gemein, auch wenn Tony das natürlich nicht auffiel: Keines der Kinder in jenem heißen und stickigen Keller hatte das Alter der Pubertät erreicht.
    Die freundliche Dame sorgte dafür, daß er einen Platz auf einer Bank an der Wand bekam und ein Dienstmädchen ihm wortlos einen Becher mit Chokolatl aus einem Topf auf dem eisernen Herd brachte. Tony aß den Rest seiner Pastete und trank das süße, heiße Getränk, ohne viel von seiner Umgebung wahrzunehmen, wie umgekehrt auch die anderen ihn kaum zu bemerken schienen. Er war zu klein, um eine Bedrohung zu sein, und zu gleichmütig, um als Opfer viel Befriedigung zu versprechen.
    Ein anderer Junge fragte schließlich, was alle beschäftigte. »Hey, Miss! Wozu haben Sie uns hierher gebracht?« Er war ein robust aussehender Kerl mit einem dunklen
    Schokoladenbart auf der Oberlippe und einer dürren schwarzen Ratte als Dæmon. Die Dame, die an der Tür stand und mit einem stämmigen Mann sprach, der wie ein Kapitän aussah, drehte sich um; sie sah in dem zischenden Naphthalicht so engelhaft aus, daß die Kinder verstummten.
    »Wir brauchen eure Hilfe«, sagte sie. »Ihr wollt uns doch helfen, oder?«
    Niemand sagte etwas. Alle starrten sie nur an, plötzlich scheu geworden. Eine solche Dame hatten die Kinder noch nie gesehen; sie war so anmutig und nett und freundlich, daß sie ihr Glück kaum fassen konnten, und sie hätten alles für sie getan, wenn sie damit nur etwas länger in ihrer Nähe bleiben konnten.
    Die Dame sagte den Kindern, daß sie auf Reisen gehen würden. Sie würden gut zu essen und warme Kleider bekommen, und wer wolle, könne seinen Eltern schreiben, damit sie wüßten, daß ihre Kinder in Sicherheit seien. Kapitän Magnusson würde sie bald an Bord seines Schiffes bringen, und dann müßten sie nur noch auf die Flut warten, um auszulaufen und Kurs nach Norden zu nehmen.
    Bald saßen die wenigen, die eine Nachricht nach Hause schicken wollten, um die schöne Dame, und diese schrieb nach ihrem Diktat einige Zeilen und steckte sie dann, nachdem die Absender unten auf das Blatt ein unbeholfenes Kreuz gekritzelt hatten, in

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