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Der Goldene Kompass

Der Goldene Kompass

Titel: Der Goldene Kompass Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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Besuchern, auf deren Besuch er als ihm zustehend gedrungen hatte. Über Land, zu Wasser und auf dem Luftweg hatte Lord Asriel seine Materialien zusammengetragen, und ein halbes Jahr nach seiner Gefangennahme hatte er alles, was er brauchte.
    Und nun arbeitete, dachte, plante und rechnete er und wartete nur noch auf das eine, das er brauchte, um die Aufgabe zu vollenden, vor der die Oblations-Behörde solche Angst hatte. Und dieses Letzte, das er brauchte, war bereits zu ihm unterwegs.
     
     
    Lyra sah das Gefängnis ihres Vaters zum erstenmal, als Iorek Byrnison am Fuß eines Gebirgskammes anhielt, damit die Kinder ihre Glieder bewegen und strecken konnten, da sie gefährlich ausgekühlt und steif gefroren waren.
    »Sieh, da oben«, sagte er.
    Ein breiter, zerfurchter und mit Eis- und Felsbrocken übersäter Hang, in den man mühsam einen Pfad gehauen hatte, führte zu einer Felsnase, die sich schwarz und spitz vor dem Himmel abhob. Die Aurora schien nicht, aber die Sterne glitzerten. Auf dem Gipfel der Felsnase stand ein großes Gebäude, das hell durch die Nacht leuchtete. Was Lyra sah, war weder das rußige, unruhige Flackern von Tranlampen noch das grelle Weiß anbarischer Scheinwerfer, sondern das warme, cremefarbene Licht von Naphthalampen.
    Auch die Fenster, durch die das Licht schien, zeigten, wie mächtig Lord Asriel war. Glas war teuer, und durch große Fensterscheiben verschwendete man in diesen extremen Breiten Unmengen von Heizmaterial. Lord Asriels Haus zeugte von einem noch größeren Reichtum und Einfluß als Iofur Raknisons aufgedonnerter Palast.
    Sie stiegen zum letzten mal auf ihre Bären, und Iorek ging ihnen voraus den Pfad zum Haus hinauf. Oben gelangten sie in einen tief verschneiten Hof, um den eine niedrige Mauer lief. Als Iorek das Tor aufstieß, hörten sie drinnen im Haus eine Klingel.
    Lyra kletterte von ihrem Bären herunter; sie konnte kaum noch stehen. Dann half sie Roger beim Absteigen, und sich gegenseitig stützend stolperten die Kinder durch den bis zu den Oberschenkeln reichenden Schnee zur Eingangstreppe.
    Wie warm es im Haus sein würde! Wie ruhig und friedlich! Lyra streckte die Hand nach der Klingel aus, doch noch bevor sie klingeln konnte, ging die Tür auf. Dahinter erschien ein kleiner, schwach erleuchteter Flur, der die Wärme im Haus halten sollte, und unter der Flurlampe stand jemand, den Lyra kannte: Lord Asriels Diener Thorold mit seinem Dæmon Anfang, einem Pinscher.
    Erschöpft schlug Lyra die Kapuze zurück.
    »Wer…«, begann Thorold, doch als er sah, wer es war, rief er: »Doch nicht Lyra? Die kleine Lyra? Träum ich denn?«
    Er langte hinter sich, um die innere Tür zu öffnen.
    Die Tür führte in einen saalartigen Raum, in dessen steinernem Kamin ein Kohlenfeuer loderte. Warmes Naphthalicht schien auf Teppiche, Ledersessel und poliertes Holz… Lyra hatte so etwas nicht mehr gesehen, seit sie Jordan College verlassen hatte, und sie spürte plötzlich einen Kloß im Hals.
    Lord Asriels Dæmon, die Schneeleopardin, knurrte.
    Dann stand auf einmal ihr Vater da, mit seinem energischen Gesicht mit den dunklen Augen, aus denen wilde Entschlossenheit, Triumph und Tatkraft blitzten. Doch dann wich plötzlich alle Farbe aus seinem Gesicht, und seine Augen weiteten sich in namenlosem Entsetzen, als er seine Tochter erkannte.
    »Nein! Nein!«
    Er stolperte zurück und hielt sich am Kaminsims fest. Lyra war wie gelähmt.
    »Verschwinde!« schrie Lord Asriel. »Dreh dich um und verschwinde, los! Ich habe nicht nach dir geschickt.«
    Lyra konnte nicht sprechen. Sie öffnete den Mund zweimal, dreimal, und dann brachte sie heraus: »Nein, nein, ich bin doch hier, weil…«
    Er schüttelte nur fortwährend den Kopf und streckte die Hände aus, wie um sie abzuwehren. Lyra wollte ihren Augen nicht trauen.
    In der Absicht, ihn zu beruhigen, trat sie einen Schritt auf ihn zu, und Roger folgte ihr nervös. Ihre Dæmonen flatterten in die Wärme, und einen Augenblick später strich sich Lord Asriel mit der Hand über die Schläfe. Er schien sich etwas erholt zu haben, und die Farbe kehrte allmählich in seine Wangen zurück, als er auf die beiden Kinder heruntersah.
    »Lyra«, sagte er. »Bist du es, Lyra?«
    »Ja, Onkel Asriel«, sagte sie. Jetzt schien nicht der richtige Zeitpunkt, ihre wirkliche verwandtschaftliche Beziehung zu erörtern. »Ich bringe dir das Alethiometer des Rektors von Jordan College.«
    »Ja, natürlich«, sagte er. »Wer ist das?«
    »Das ist Roger

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