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Der Goldene Kompass

Der Goldene Kompass

Titel: Der Goldene Kompass Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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einen parfümierten Umschlag, auf den sie die angegebene Adresse schrieb. Auch Tony hätte seiner Mutter gern etwas geschrieben, aber er befürchtete zu Recht, daß sie es nicht würde lesen können. Er zupfte die Dame deshalb am Ärmel ihres Fuchspelzes und flüsterte, sie solle seiner Mutter sagen, wohin er fahre, und die Dame hörte dem dreckigen kleinen Jungen mit anmutig geneigtem Kopf zu, strich ihm dann übers Haar und versprach, die Nachricht auszurichten.
    Die Kinder umringten sie, um sich zu verabschieden. Der goldene Affe streichelte die Dæmonen der Kinder, und die Kinder berührten den Fuchspelz wie einen Glücksbringer, als ob dadurch Kraft, Hoffnung oder Güte von der Dame auf sie übergehen könnte, und auch die Dame sagte ihnen Lebewohl und übergab sie der Fürsorge des kühnen Kapitäns an der Anlegestelle. Der Himmel war jetzt dunkel, und auf dem Fluß tanzten zahllose Lichter. Die Dame blieb an der Anlegestelle stehen und winkte, bis sie die Gesichter der Kinder nicht mehr erkennen konnte.
    Dann kehrte sie, den goldenen Affen an die Brust geschmiegt, in das Lagerhaus zurück. Das kleine Bündel Briefe warf sie in den Ofen, dann verschwand sie durch die Tür, durch die sie gekommen war.
     
     
    Es war nicht schwer, die Kinder aus den Slums anzulocken, aber nach einiger Zeit fiel es doch auf, und die Polizei bequemte sich widerwillig dazu, tätig zu werden. Eine Zeitlang wurden keine Kinder mehr verhext. Doch das Gerücht war da, und es veränderte sich allmählich und wuchs und breitete sich aus, und als einige Zeit später einige Kinder in Norwich verschwanden und dann in Sheffield und dann in Manchester, ließen die Menschen dort, die von den anderswo verschwundenen Kindern gehört hatten, das Gerücht Wiederaufleben und gaben ihm neue Kraft.
    Und so wuchs die Legende von einer geheimnisvollen Gruppe von Zauberern, die Kinder weghexten. Einige sagten, ihr Anführer sei eine schöne Frau, anderen zufolge war er ein hochgewachsener Mann mit roten Augen, eine dritte Version sprach von einem jungen Mann, der seine Opfer durch Lachen und Singen dazu brachte, daß sie ihm wie Schafe folgten.
    Was den Ort betraf, an den die verschwundenen Kinder gebracht wurden, widersprachen die Geschichten einander. Einige sagten, es sei die Hölle, ein Ort unter der Erde oder ein Feenland, anderen zufolge war es ein Bauernhof, auf dem die Kinder für den Kochtopf gemästet wurden. Wieder andere meinten, die Kinder würden als Sklaven an reiche Tataren verkauft, und so weiter.
    In einem stimmten allerdings alle Geschichten überein: dem Namen der unsichtbaren Kidnapper. Man brauchte einen Namen, sonst konnte man nicht über sie sprechen, und über sie zu sprechen war — besonders wenn man behütet und beschützt zu Hause oder in Jordan College saß — ein wunderbares Vergnügen. Der Name also, der nach und nach an ihnen haften blieb, ohne daß jemand wußte warum, war Gobbler.
    »Komm vor Einbruch der Nacht wieder, sonst holen dich die  Gobbler!«
    »Meine Cousine in Northampton kennt eine Frau, deren  Junge von den Gobblern geholt wurde…«
    »Die Gobbler waren in Stratford. Es heißt, sie kommen nach  Süden.«
     
     
    Und natürlich: 
    »Laßt uns Kinder und Gobbler spielen.«
    Das sagte Lyra zu Roger, dem Küchenjungen von Jordan  College. Er wäre ihr bis ans Ende der Welt gefolgt.
    »Wie spielt man das?«
    »Du versteckst dich, und ich suche dich und schlitze dich auf,  wie es die Gobbler tun.«
    »Du weißt doch gar nicht, was sie tun. Vielleicht gibt es sie  gar nicht.«
    »Du hast ja nur Angst vor ihnen«, sagte Lyra, »das weiß ich  genau.«
    »Hab ich nicht. Aber ich glaube trotzdem nicht an sie.« 
    »Ich schon«, sagte Lyra entschieden. »Aber ich hab auch keine  Angst. Ich würde einfach tun, was mein Onkel getan hat, als er  letztes Mal nach Jordan kam. Ich hab es selbst gesehen. Er war  im Ruhezimmer, und da war dieser unhöfliche Gast, und mein  Onkel starrt ihn nur böse an, und der fällt auf der Stelle tot um,  mit lauter Schaum vor dem Mund.«
    »Glaub ich nicht«, sagte Roger zweifelnd. »Davon hab ich in  der Küche nichts gehört. Und überhaupt, das Ruhezimmer darf  man gar nicht betreten.«
    »Natürlich hast du nichts gehört. Dem Personal erzählt man  doch so was nicht. Und ich war im Ruhezimmer, also bitte.  Mein Onkel macht das immer so. Er hat es mit einigen Tataren  gemacht, als er ihnen einmal in die Hände fiel. Sie fesselten ihn  und wollten seine

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