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Der Goldene Kompass

Der Goldene Kompass

Titel: Der Goldene Kompass Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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Eingeweide ausschneiden, aber als der erste  mit ‘nem Messer kam, sah mein Onkel ihn nur an, und der fiel  tot um. Dann kam der nächste, und mein Onkel tat dasselbe,  und dann war nur noch einer übrig. Mein Onkel sagte, daß er  ihm das Leben schenkt, wenn er ihn losbinden würde, also tat er  das, und dann hat mein Onkel ihn trotzdem getötet, um ihm  einen Denkzettel zu verpassen.«
    Roger war von dieser Geschichte nicht sehr überzeugt, aber  die Geschichte war einfach zu gut, deshalb spielten sie abwechselnd Lord Asriel und die sterbenden Tataren. Für den Schaum  verwendeten sie Brausepulver.
    Lyra vergaß ihre ursprüngliche Absicht allerdings nicht. Sie  wollte immer noch Gobbler spielen und überredete Roger, mit  ihr in den Weinkeller hinunterzusteigen, den sie mit dem  Ersatzschlüssel des Butlers aufschloß. Zusammen schlichen sie  durch die großen Gewölbe, in denen unter jahrhundertealten  Spinnweben der Tokaier und Kanarienwein, der Burgunder und Branntwein des College lagerten. Über ihnen wölbten sich uralte steinerne Bögen, getragen von zehn Mann dicken Pfeilern, auf dem Boden lagen unregelmäßige Steinplatten, und an den Wänden lagerten in mehrstöckigen Gestellen die Flaschen und Fässer. Die beiden Kinder waren fasziniert, die Gobbler hatten sie vergessen. Eine Kerze in den zitternden Fingern, schlichen sie auf Zehenspitzen von einem Ende zum anderen und spähten in jede Ecke, bis Lyra schließlich nur noch eine  einzige Frage beschäftigte: Wie schmeckte der Wein? 
    Die Frage ließ sich leicht beantworten. Ohne auf Rogers
    stürmische Proteste einzugehen, zog Lyra die älteste, grünste
    und am seltsamsten geformte Flasche, die sie finden konnte, aus
    dem Regal und brach ihr, da sie keinen Korkenzieher dabeihatte, den Hals ab. Tief in einen dunklen Winkel gedrückt,  nippten die beiden an der berauschenden, tiefroten Flüssigkeit  und überlegten, wann sie betrunken sein würden und woran  man das merkte. Lyra mochte den Geschmack nicht besonders,  mußte aber zugeben, daß er irgendwie grandios und exotisch  war. Am lustigsten war es, zuzusehen, wie die beiden Dæmonen  immer beschwipster wurden; sie stolperten übereinander,  kicherten sinnlos und wechselten die Gestalt, um häßlicher zu  sein als der andere, bis sie wie Wasserspeier aussahen. 
    Zum Schluß — und fast zu gleichen Zeit — entdeckten die  Kinder, wie es war, betrunken zu sein.
    »Tun die das gern?« keuchte Roger, nachdem er sich heftig  erbrochen hatte.
    »Ja«, sagte Lyra, der es nicht besser ging. »Und ich auch«,  fügte sie trotzig hinzu.
     
     
    Lyra lernte aus diesem Erlebnis lediglich, daß das Gobbler-Spiel einen an interessante Orte führte. Die Worte ihres Onkels aus ihrem letzten Gespräch fielen ihr ein, und sie begann, ihre Streifzüge unter die Erde auszudehnen, denn was über der Erde lag, war nur ein Bruchteil des Ganzen. Jordan, das über der Erde mit St. Michael’s College auf der einen, Gabriel College auf der anderen und der Universitätsbibliothek auf der dritten Seite um Platz konkurrieren mußte, hatte irgendwann im Mittelalter angefangen, sich wie ein gewaltiger Pilz, dessen Wurzelsystem sich über Tausende von Quadratmetern erstreckte, unter der Erde auszudehnen. Unter dem College und im Umkreis von einigen hundert Metern höhlten Tunnel, Schächte, Gewölbe, Keller und Treppen die Erde so sehr aus, daß es fast so viel Luft gab wie über der Erde; Jordan College stand auf einer Art zu Schaum gewordenem Stein.
    Sobald Lyra Gefallen an der Erforschung dieser Welt gefunden hatte, gab sie ihre bisherigen Streifzüge über das Gebirge der Collegedächer auf und stürzte sich mit Roger in die Unterwelt. Statt Gobbler zu spielen, machte sie jetzt Jagd auf die Gobbler, denn was lag näher, als daß diese irgendwo außer Sicht unter der Erde lauerten?
    So gelangten sie und Roger eines Tages in die Krypta unter dem Bethaus. Hier waren in Nischen entlang der steinernen Wände Generationen von Rektoren in bleigefaßten Eichensärgen begraben. Unter den Nischen standen auf Steintafeln ihre Namen:
     
    Simon Le Clerc, Rektor 1765-1789 Cerebaton 
    Requiescant in pace
     
    »Was heißt das?« fragte Roger.
    »Zuerst kommt der Name, und der letzte Teil ist Lateinisch.
    In der Mitte steht die Zeit, in der er Rektor war. Und der andere  Name ist sicher der seines Dæmons.«
    Sie gingen durch das stille Kellergewölbe und entzifferten  weitere Inschriften:
     
    Francis Lyall,

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