Der Goldene Kompass
egal…«
»Lyra, wir alle haben Roger gern…«
»Ist doch nicht wahr, sonst würdet ihr sofort aufhören zu arbeiten und ihn suchen! Ich hasse euch!«
»Daß Roger nicht da ist, kann doch ein Dutzend Gründe haben. Sei doch vernünftig. Wir müssen das Abendessen machen und in weniger als einer Stunde servieren. Der Rektor hat in seiner Wohnung Gäste und wird dort essen, der Chef muß dafür sorgen, daß das Essen schnell zu ihm rüberkommt und nicht kalt wird. Und davon abgesehen, Lyra, das Leben geht weiter. Roger taucht ganz bestimmt wieder auf…«
Lyra stürmte aus der Küche. Auf dem Weg stieß sie einen Stapel silberner Abdeckhauben um und rannte dann, ohne das wütende Geschrei zu beachten, das hinter ihr ausbrach, die Treppe hinunter und über den Hof zwischen der Kapelle und dem Palmer-Turm zum Yaxley Quadrangle mit den ältesten Gebäuden des College.
Pantalaimon sprang ihr als kleiner Gepard voraus und flog die Treppe hinauf bis ganz nach oben, wo sich Lyras Schlafzimmer befand. Lyra stieß die Tür auf, schleppte ihren wackligen Stuhl zum Fenster, machte es weit auf und kletterte hinaus. Dicht unter dem Fenster verlief eine breite, bleigefaßte Regenrinne aus Stein. Lyra stieg hinein, drehte sich um und kletterte die unebenen Dachziegel hinauf bis zum First. Dort öffnete sie den Mund und ließ einen Schrei ertönen. Pantalaimon, der sich auf dem Dach immer in einen Vogel verwandelte, umkreiste sie und schrie wie ein Rabe.
Der Abendhimmel war ein Meer zarter pfirsich-, aprikosenund cremefarbener Sahnewölkchen auf einem weiten, orangefarbenen Himmel. Ringsherum ragten die Türme und Giebel von Oxford auf; im Westen und Osten erstreckten sich die Wälder von Château-Vert und White Ham. Irgendwo krächzten Raben und läuteten Glocken, und von den Ochsenställen her kündigte der stete Takt eines Gasmotors den Aufstieg des Abendzeppelins mit der Post für London an. Lyra beobachtete, wie er sich jenseits der Turmspitze der St. Michael’s Chapel entfernte, zunächst noch so groß wie das oberste Glied ihres kleinen Fingers, wenn sie ihn auf Armlänge von sich wegstreckte, dann immer kleiner, bis er nur noch ein Punkt am perlmuttfarbenen Himmel war.
Sie wandte sich ab und sah in den dunkel werdenden Hof hinunter. Einzeln oder zu zweit strebten die schwarzgekleideten Gestalten der Wissenschaftler dem Speisesaal zu; ihre Dæmonen trotteten oder flatterten neben ihnen her oder hockten ruhig auf ihren Schultern. Im Speisesaal gingen die Lichter an; nach und nach begannen die bunten Glasfenster zu leuchten, als die Diener die Tische entlanggingen und die Naphthalampen anzündeten. Die Klingel des Stewards verkündete, daß es noch eine halbe Stunde bis zum Abendessen war.
Das war ihre Welt. Lyra wollte, daß sie in alle Ewigkeit so blieb, aber sie änderte sich, denn da draußen entführte jemand Kinder. Das Kinn in die Hände gestützt, saß sie auf dem Dachfirst.
»Wir müssen ihn retten, Pantalaimon«, sagte sie.
Er antwortete mit seiner krächzenden Rabenstimme vom Schornstein. »Das ist gefährlich.«
»Natürlich! Weiß ich doch.«
»Denk dran, wovon im Ruhezimmer die Rede war.«
»Wovon?«
»Von einem Kind in der Arktis. Einem Kind, das keinen Staub anzog.«
»Einem ganzen Kind, wie die Wissenschaftler sagten… Was heißt das?«
»Vielleicht haben sie mit Roger, den Gyptern und den anderen Kindern dasselbe vor.«
»Was?«
»Na ja, was bedeutet ganz?«
»Weiß ich doch nicht. Wahrscheinlich schneiden sie sie in der Mitte auseinander. Ich glaube, sie machen sie zu Sklaven. Das wäre viel nützlicher. Wahrscheinlich haben sie da oben Minen. Uranminen für Atomkraftwerke. Ich wette, das ist es. Und wenn sie Erwachsene in die Minen schicken, sind sie tot, also nehmen sie lieber Kinder, weil die weniger kosten. Das machen sie mit Roger.«
»Ich glaube…«
Aber was Pantalaimon glaubte, mußte warten, denn in diesem Augenblick begann von unten jemand zu rufen.
»Lyra! Lyra! Komm sofort runter!«
Jemand schlug an den Fensterrahmen. Lyra kannte die ungeduldige Stimme: Sie gehörte Mrs. Lonsdale, der Haushälterin. Vor ihr gab es kein Versteck.
Mit ärgerlichem Gesicht rutschte Lyra das Dach hinunter und in die Regenrinne und stieg wieder durch das Fenster. Mrs. Lonsdale ließ gerade Wasser in das kleine, schartige Waschbekken laufen, und die Wasserrohre stöhnten und hämmerten.
»Wie oft ich dir schon gesagt habe, du sollst nicht aufs Dach klettern… Sieh dich an! Sieh deinen Rock
Weitere Kostenlose Bücher