Der Goldene Kompass
an — schmutzig von oben bis unten! Zieh ihn sofort aus und wasch dich, während ich nach etwas Anständigem zum Anziehen suche, das nicht zerrissen ist. Warum mußt du dich auch immer schmutzig machen…«
Lyra war so beleidigt, daß sie gar nicht fragte, warum sie sich waschen und umziehen sollte, und Erwachsene begründeten nie etwas freiwillig. Sie zog sich das Kleid über den Kopf, ließ es auf das schmale Bett fallen und begann lustlos, sich zu waschen, während Pantalaimon in Gestalt eines Kanarienvogels auf Mrs. Lonsdales Dæmon, einen stattlichen Retriever, zuhüpfte und vergeblich versuchte, ihn zu ärgern.
»Sieh dir diese Kleider an. Du hast seit Wochen nichts mehr aufgehängt! Sieh nur die Falten in diesem…«
Sieh dies, sieh das… Lyra wollte gar nichts sehen. Sie schloß die Augen und trocknete sich mit dem dünnen Handtuch das Gesicht ab.
»Dann mußt du es eben anziehen, wie es ist. Zeit zum Bügeln haben wir nicht mehr. Ach du meine Güte, Mädchen, deine Knie — sieh sie dir an…«
»Ich will überhaupt nichts sehen«, murmelte Lyra.
Mrs. Lonsdale gab ihr einen Klaps auf das Bein. »Du wäschst dich«, sagte sie streng, »bis du ganz sauber bist.«
»Warum denn?« fragte Lyra. »Ich wasche meine Knie doch sonst auch nie. Niemand sieht sie. Wozu muß ich das alles tun? Dir ist Roger ja auch egal, genauso wie denen aus der Küche. Ich bin die einzige, die…«
Sie bekam einen Klaps auf das andere Bein.
»Hör auf mit dem Unsinn. Ich bin eine Parslow, genau wie Rogers Vater. Er ist mein Cousin zweiten Grades. Ich wette, du weißt das nicht, weil du natürlich nie gefragt hast, mein Fräulein. Ich wette, du wärst nie von selbst daraufgekommen. Also wirf mir nicht vor, der Junge wäre mir egal. Weiß Gott, ich sorge mich ja sogar um dich, obwohl du das eigentlich nicht verdienst und nur undankbar bist.«
Sie griff nach dem Waschlappen und rubbelte Lyras Knie so heftig damit ab, daß die Haut schließlich rot und wund, aber sauber war.
»Der Grund für das Waschen ist, daß du mit dem Rektor und seinen Gästen zu Abend essen wirst. Ich bete zu Gott, du benimmst dich anständig. Sprich nur, wenn du angesprochen wirst, sei höflich und nett und lächle freundlich. Und daß du mir nicht Weiß nich sagst, wenn man dich etwas fragt.«
Mrs. Lonsdale zog das beste Kleid, das sie hatte finden können, über Lyras mageren Körper und zupfte daran, bis es glatt hing. Dann fischte sie aus dem Chaos einer Schublade ein rotes Band und kämmte Lyras Haare mit einer groben Bürste.
»Wenn ich früher davon erfahren hätte, hätte ich deine Haare gründlich gewaschen. Tja, zu spät. Solange man nicht zu genau hinsieht… So, jetzt steh gerade. Wo sind deine Lackschuhe?«
Fünf Minuten später klopfte Lyra an die Tür der Rektorswohnung, die in einem weitläufigen und etwas düsteren Haus lag, das sich zum Yaxley Quadrangle hin öffnete und mit der Rückseite an den Garten der Bibliothek grenzte. Pantalaimon, zur Feier des Tages ein Hermelin, rieb sich an ihrem Bein. Die Tür wurde von Cousins, dem Diener des Rektors, geöffnet, einem alten Feind Lyras, der freilich genauso wie sie wußte, daß bis auf weiteres Waffenstillstand zwischen ihnen herrschte. »Mrs. Lonsdale sagte, ich solle kommen«, sagte Lyra.
»Ja«, nickte Cousins und trat zur Seite. »Der Rektor ist im Salon.«
Er führte Lyra in ein großes Zimmer mit Blick in den Bibliotheksgarten. Die Abendsonne schien durch die Lücke zwischen Bibliothek und Palmer-Turm herein und beleuchtete die schweren Bilder und das düstere Silber, das der Rektor sammelte. Sie schien auch auf die Gäste, und jetzt verstand Lyra, warum sie nicht im Speisesaal aßen: Drei der Gäste waren Frauen.
»Ah, Lyra«, sagte der Rektor, »schön, daß du kommen konntest. Cousins, bringen Sie Lyra etwas zu trinken. Dame Hannah, ich glaube nicht, daß Sie Lyra kennen… Lord Asriels Nichte, wie Sie vielleicht wissen.«
Dame Hannah Reif, eine ältere, grauhaarige Frau, deren Dæmon ein Krallenaffe war, leitete eines der Frauen-Colleges. Lyra gab ihr so höflich, wie sie konnte, die Hand, dann wurde sie den anderen Gästen vorgestellt, die wie Dame Hannah Wissenschaftler anderer Colleges waren und damit für Lyra völlig uninteressant. Dann kam der Rektor zu seinem letzten Gast.
»Mrs. Coulter«, sagte er, »das ist unsere Lyra. Lyra, komm und sage Mrs. Coulter guten Tag.«
»Guten Tag, Lyra«, sagte Mrs. Coulter.
Sie war wunderschön und jung.
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