Der Goldene Kompass
vom Flur aus sehen konnte, was sie machte, während er den Gästen in ihre Mäntel half. Lyra hielt nach Mrs. Coulter Ausschau, sah sie aber nicht mehr, und dann trat der Rektor ins Zimmer und schloß die Tür.
Schwer ließ er sich in den Sessel am Feuer fallen. Sein Dæmon flog auf die Lehne und setzte sich neben seinen Kopf, die alten Augen unter den schweren Lidern waren auf Lyra gerichtet. Die Lampe zischte leise. Dann sprach der Rektor.
»Also Lyra, du hast dich mit Mrs. Coulter unterhalten. War es interessant?«
»Ja!«
»Sie ist eine bemerkenswerte Dame.«
»Sie ist toll. Sie ist der tollste Mensch, den ich kenne.«
Der Rektor seufzte. In seinem schwarzen Anzug und der schwarzen Krawatte sah er seinem Dæmon zum Verwechseln ähnlich, und Lyra mußte auf einmal daran denken, daß man ihn womöglich schon bald in der Krypta unter dem Bethaus begraben würde; ein Künstler würde das Bild seines Dæmons auf die Messingplakette des Sarges gravieren, und darunter würden nebeneinander die beiden Namen stehen.
»Ich hätte schon früher mit dir reden sollen, Lyra«, fuhr der Rektor schließlich fort. »Ich hatte es fest vor, aber jetzt scheint die Zeit knapper, als ich dachte. Du hast in Jordan ein behütetes Leben geführt, Liebes. Ich glaube, du warst glücklich. Es war nicht leicht für dich, uns zu gehorchen, aber wir haben dich sehr lieb, und du bist ein gutes Kind. Du hast ein aufrichtiges Herz, bist ein großes Mädchen, und du weißt, was du willst. Das alles wirst du brauchen. In der Welt draußen geschehen Dinge, vor denen ich dich gerne beschützt hätte — ich meine, indem ich dich hier in Jordan behalte —, aber das ist nun nicht länger möglich.«
Lyra starrte den Rektor verständnislos an. Wollte man sie wegschicken?
»Du weißt, daß du eines Tages zur Schule gehen mußt«, fuhr der Rektor fort. »Zwar haben wir dich hier in einigen Dingen unterrichtet, aber weder gut noch systematisch. Was wir hier wissen, ist etwas anderes. Du mußt Dinge lernen, die ältere Männer dir nicht beibringen können, zumal in deinem Alter. Das hast du sicher auch schon gemerkt. Außerdem bist du nicht das Kind eines Dieners; deshalb konnten wir dich nicht in eine Familie aus der Stadt geben, damit sie dich großzieht. Eine solche Familie hätte in mancher Hinsicht für dich sorgen können, aber du hast auch noch andere Bedürfnisse. Was ich also sagen will, Lyra, ist, daß der Teil deines Lebens, den du in Jordan College verbracht hast, sich dem Ende nähert.«
»Nein«, sagte sie, »nein, ich will nicht von Jordan weg. Mir gefällt es hier. Ich will immer hier bleiben.«
»Wenn man jung ist, glaubt man, daß alles ewig dauert. Leider ist es nicht so. Lyra, es dauert höchstens noch ein paar Jahre, und du bist kein Kind mehr, sondern eine junge Frau. Eine junge Dame. Und glaube mir, dann wird es dir in Jordan College überhaupt nicht mehr gefallen.«
»Aber es ist mein Zuhause!«
»Es war dein Zuhause. Jetzt brauchst du etwas anderes.«
»Aber nicht die Schule. Ich geh nicht zur Schule.«
»Du brauchst weibliche Gesellschaft. Die Anleitung einer Frau.«
Bei dem Wort weiblich mußte Lyra sofort an Wissenschaftlerinnen denken, und sie schnitt unwillkürlich eine Grimasse. Das berühmte College verlassen zu müssen, seinen Glanz und seine berühmten Gelehrten, um in ein schäbiges, aus Ziegeln erbautes Internat im Norden Oxfords zu ziehen, wo langweilige Lehrerinnen unterrichteten, die wie die beiden Wissenschaftlerinnen beim Abendessen nach Kohl und Mottenkugeln rochen!
Der Rektor sah ihr Gesicht und Pantalaimons rot blitzende Iltisaugen.
»Und wenn diese Frau Mrs. Coulter wäre?«
Schlagartig verwandelten sich die braunen Borsten von Pantalaimons Fell in weißen Flaum. Lyra riß die Augen auf.
»Wirklich?«
»Sie ist zufällig mit Lord Asriel bekannt. Deinem Onkel liegt dein Wohl natürlich sehr am Herzen, und als Mrs. Coulter von dir hörte, bot sie sofort ihre Hilfe an. Es gibt übrigens keinen Mr. Coulter, sie ist Witwe. Ihr Mann starb bei einem tragischen Unfall vor einigen Jahren. Denk bitte daran, ehe du sie fragst.« Lyra nickte eifrig. Dann sagte sie: »Und sie will sich wirklich… um mich kümmern?«
»Hättest du das gern?«
»Ja!«
Sie konnte kaum noch stillsitzen. Der Rektor lächelte. Er lächelte so selten, daß er ganz außer Übung war, und wer ihn gesehen hätte — Lyra hatte dafür jetzt keinen Blick —, hätte es eher für eine traurige Grimasse gehalten.
»Ja, dann holen
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