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Der Goldene Kompass

Der Goldene Kompass

Titel: Der Goldene Kompass Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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alles sofort zu erzählen.
    »Es war erst gestern. Vielleicht ist sie schon wieder da.«
    »Ich frag mal«, sagte Lyra und wandte sich zum Gehen. Sie war noch nicht durch das Tor, als der Portier sie rief.
    »Halt, Lyra! Du sollst heute abend hierbleiben. Befehl des Rektors.«
    »Warum?«
    »Ich sagte doch, Befehl des Rektors. Er sagt, daß du bleiben sollst, wenn du kommst.«
    »Dann fang mich doch«, sagte Lyra und war zur Tür hinausgeschossen, bevor der alte Mann seine Loge verlassen konnte.
    Sie rannte über die enge Straße in die Gasse, in der die Lastwagen die Waren für die Markthalle abluden. Da der Markt gerade zumachte, standen nur noch wenige Lastwagen da, aber am Haupteingang gegenüber der hohen Steinwand von St. Michael’s College lehnte rauchend und redend eine Gruppe Jugendlicher. Lyra kannte einen von ihnen, einen Sechzehnjährigen, den sie bewunderte, weil er weiter spucken konnte als alle anderen. Zu ihm ging sie jetzt und wartete demütig, bis er sie bemerkte.
    »Ja? Was willst du denn?« fragte er endlich.
    »Ist Jessie Reynolds verschwunden?«
    »Ja. Warum?«
    »Weil ein gyptisches Kind heute auch verschwunden ist.« 
    »Die verschwinden doch immer, die Gypter. Nach jedem Pferdemarkt verschwinden die.«
    »Und die Pferde auch«, sagte einer seiner Freunde.
    »Dies ist was anderes«, sagte Lyra. »Es ist ein kleiner Junge. Wir haben ihn den ganzen Nachmittag gesucht, und die anderen Kinder sagten, die Gobbler hätten ihn geschnappt.« 
    »Die was?«
    »Die Gobbler«, sagte sie. »Hast du noch nicht von ihnen gehört?«
    Auch für die anderen Jungen war das neu, und sie hörten sich, von einigen groben Kommentaren abgesehen, aufmerksam an, was Lyra ihnen erzählte.
    »Gobbler«, sagte Lyras Bekannter, der Dick hieß. »So ein Blödsinn. Die Gypter kommen doch immer auf so blöde Ideen.«
    »Sie sagen, vor einigen Wochen seien Gobbler in Banbury aufgetaucht«, beharrte Lyra, »und damals verschwanden fünf Kinder. Wahrscheinlich kommen sie jetzt nach Oxford, um auch von uns Kinder zu holen. Sicher haben sie Jessie entführt.« 
    »Drüben in Cowley ist auch ein Kind verschwunden«, sagte ein anderer Junge. »Fällt mir jetzt ein. Meine Tante war gestern mit ihrer Fish-and-Chips-Bude dort, und sie hörte davon… ein kleiner Junge… Aber das mit den Gobblern, ich weiß nicht. Die gibt es nicht. Die sind erfunden.«
    »Es gibt sie!« sagte Lyra. »Die Gypter haben sie gesehen. Sie glauben, daß die Gobbler die Kinder, die sie fangen, auffressen und…«
    Sie brach mitten im Satz ab, weil ihr plötzlich etwas eingefallen war. An jenem merkwürdigen Abend, an dem sie sich im Ruheraum versteckt hatte, hatte Lord Asriel das Bild eines Mannes gezeigt, der einen Stab in die Höhe hielt, auf den Lichtstrahlen einströmten. Neben ihm, mit weniger Licht um sich, hatte eine kleine Gestalt gestanden, und Lord Asriel hatte gesagt, das sei ein Kind. Als jemand gefragt hatte, ob es ein abgeschnittenes Kind sei, hatte ihr Onkel gesagt, nein, und das sei der springende Punkt.
    Und dann fiel ihr siedendheiß noch etwas ein: Wo war Roger? Sie hatte ihn seit dem Morgen nicht mehr gesehen…
    Plötzlich hatte sie Angst. Pantalaimon sprang ihr in Gestalt eines kleinen Löwen in die Arme und knurrte. Sie verabschiedete sich von den Jungen am Tor, ging ruhig die Gasse bis zur Turl Street und rannte dann, so schnell sie konnte, zum College zurück. Eine Sekunde vor ihrem Dæmon, der die Gestalt eines Gepards angenommen hatte, schoß sie durch das Tor.
    Der Portier zog scheinheilig die Augenbrauen hoch.
    »Leider mußte ich den Rektor verständigen«, sagte er. »Er war nicht gerade erfreut. Ich möchte nicht in deiner Haut stekken, nicht für Geld möchte ich das.«
    »Wo ist Roger?« wollte sie wissen.
    »Ich habe ihn nicht gesehen. Der kann sich auch auf was gefaßt machen. Oho, wenn Mr. Cawson den in die Finger kriegt…«
    Lyra rannte in die Küche. Sie bahnte sich einen Weg durch Hitze, Dampf und Lärm.
    »Wo ist Roger?« rief sie.
    »Geh, Lyra! Wir haben zu tun!«
    »Aber wo ist er? War er da oder nicht?«
    Keiner schien sich dafür zu interessieren.
    »Wo ist er denn? Ihr müßt es doch wissen!« rief sie dem Küchenchef entgegen, der ihr daraufhin eine Ohrfeige verpaßte. Wütend sah sie sich um.
    Bernie, der Konditor, versuchte sie zu beruhigen, aber sie wollte nichts davon hören.
    »Sie haben ihn erwischt! Diese Gobbler, man sollte sie fangen und umbringen! Ich hasse sie! Euch ist Roger doch ganz

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