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Der Goldene Kompass

Der Goldene Kompass

Titel: Der Goldene Kompass Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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kannte.
    »Aber was hast du denn mit ihm gemacht, du Hornochse?« Es war eine mächtige Stimme, die Stimme einer Frau, aber einer Frau mit Lungen wie ein Blasebalg. Lyra hielt sofort nach ihr Ausschau, denn die Frau war Ma Costa, die Lyra bei zwei Gelegenheiten mit einer gewaltigen Ohrfeige halb ohnmächtig geschlagen, ihr aber bei drei Gelegenheiten warme Pfefferkuchen gegeben hatte und deren Familie für die Größe und luxuriöse Ausstattung ihres Bootes bekannt war. Sie waren Fürsten unter den Gyptern, und Lyra bewunderte Ma Costa sehr, wollte ihr aber noch eine Zeitlang nicht zu nahe kommen, denn es war ihr Boot, das sie im letzten Jahr entführt hatte.
    Einer der Jungen in Lyras Begleitung hob automatisch einen Stein auf, als er das Geschrei hörte, aber Lyra sagte: »Vergiß es, sie ist schlecht gelaunt. Sie könnte dir das Rückgrat wie einen Zweig brechen.«
    Ma Costa sah allerdings eher besorgt als wütend aus. Der Mann, vor dem sie stand, ein Pferdehändler, zuckte die Schultern und breitete die Hände aus.
    »Ich weiß nicht«, sagte er gerade. »Er kam und war sofort wieder weg. Ich hab nicht gesehen, wohin er ging…«
    »Aber er hat dir geholfen! Er hat deine blöden Pferde für dich gehalten!«
    »Na ja, dann hätte er auch hier bleiben sollen, oder? Statt mitten in der Arbeit wegzurennen…«
    Weiter kam er nicht, denn Ma Costa versetzte ihm plötzlich eine gewaltige Ohrfeige und ließ eine solche Lawine von Flüchen und Schlägen folgen, daß er schreiend die Flucht ergriff. Die anderen Pferdehändler johlten, und ein Fohlen bäumte sich erschrocken auf.
    »Was ist denn los?« fragte Lyra ein gyptisches Kind, das mit offenem Mund zusah. »Warum ist sie wütend?«
    »Es geht um ihren Sohn«, sagte das Kind. »Um Billy. Sie hat wohl Angst, daß die Gobbler ihn geschnappt haben. Vielleicht haben sie das ja auch. Ich habe Billy auch nicht mehr gesehen seit…«
    »Die Gobbler? Sind die jetzt in Oxford?«
    Der gyptische Junge rief seine Freunde, die Ma Costa beobachteten.
    »Sie hier weiß nicht, was los ist. Sie weiß nicht, daß die Gobbler hier sind!«
    Ein halbes Dutzend Kinder drehte sich um und sah Lyra verächtlich an, und Lyra warf die Zigarette weg, denn dies war das Stichwort für einen Kampf. Sofort nahmen die Dæmonen der Kinder ein kriegerisches Aussehen an; überall tauchten Fänge, Klauen und gesträubte Nackenhaare auf, und Pantalaimon, weit erhaben über die beschränkte Phantasie der gyptischen Dæmonen, verwandelte sich in einen Drachen von der Größe eines Windhundes.
    Doch bevor die Kinder sich in die Schlacht stürzen konnten, marschierte Ma Costa herbei, schubste zwei der Gypter zur Seite und baute sich wie ein Preisboxer vor Lyra auf.
    »Hast du ihn gesehen?« wollte sie wissen. »Billy?«
    »Nein«, sagte Lyra, »wir sind gerade erst gekommen. Ich hab Billy seit Monaten nicht gesehen.«
    Ma Costas Dæmon, ein Falke, kreiste über ihrem Kopf in der Luft, und seine wilden, gelben Augen mit den starren Lidern schössen ruckartig hin und her. Niemand sorgte sich um ein Kind, das seit einigen Stunden vermißt wurde, ganz bestimmt kein Gypter; in ihrer engen Welt der Boote wurden Kinder über die Maßen geliebt und geschätzt, und wenn eine Mutter ihr Kind aus den Augen verlor, konnte sie sicher sein, daß sich sofort jemand anders um es kümmern würde.
    Doch hier war Ma Costa, eine Königin unter den Gyptern, in verzweifelter Angst um ein vermißtes Kind. Was war geschehen?
    Ma Costa starrte halb blind über die kleine Gruppe von Kindern und schob sich dann durch das Gedränge auf dem Kai und rief immer wieder laut nach ihrem Kind. Sofort wandten sich die Kinder wieder einander zu; ihre Fehde hatten sie allerdings angesichts des Kummers von Ma Costa vergessen.
    »Wer sind denn die Gobbler?« fragte Simon Parslow, einer von Lyras Begleitern.
    Der erste Gypterjunge sagte: »Das weißt du doch. Sie stehlen überall Kinder. Sie sind Piraten…«
    »Sie sind keine Piraten«, verbesserte ein anderer Gypter, »sondern Kannibalen.«
    »Sie essen Kinder?« fragte Hugh Lovat, ein anderer Freund Lyras und Küchenjunge in St. Michael.
    »Das weiß keiner«, meinte der erste Junge. »Sie entführen sie, und man sieht sie nie wieder.«
    »Das wissen wir«, sagte Lyra. »Wir spielen schon seit Monaten Kinder und Gobbler, länger als ihr, wette ich. Aber ich wette, keiner hat sie gesehen.«
    »Einige schon«, sagte ein Junge.
    »Wer denn?« beharrte Lyra. »Du vielleicht? Woher weißt du, daß es

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