Der Goldene Kompass
die Decke und machte das Licht aus. Bevor sie einschlief, steckte sie noch das Alethiometer unter das Kopfkissen, nur für alle Fälle.
Die Cocktailparty
In den folgenden Tagen begleitete Lyra Mrs. Coulter wie ein Dæmon überallhin. Mrs. Coulter kannte unendlich viele Leute, und sie begegneten ihnen an den verschiedensten Orten. Am Morgen hörte Lyra etwa bei einer Sitzung der Geographen des Royal Arctic Institute zu, zum Mittagessen war Mrs. Coulter dann in einem eleganten Restaurant mit einem Politiker oder Geistlichen verabredet. Alle waren entzückt von Lyra und bestellten ihr irgendwelche Leckereien, und sie lernte, wie man Spargel aß und wie Bries schmeckte. Am Nachmittag standen vielleicht weitere Einkäufe an, denn Mrs. Coulter brauchte für ihre Expedition Pelze, Ölzeug und wasserdichte Stiefel, ferner Schlafsäcke und Messer und, zu Lyras großen Begeisterung, Zeichenmaterial. Zum Tee traf man sich mit verschiedenen Damen, die genauso vornehm gekleidet waren wie Mrs. Coulter, wenn auch vielleicht nicht so schön oder gebildet; Frauen, die sich so sehr von den Wissenschaftlerinnen, gyptischen Bootsmüttern oder Collegeangestellten unterschieden, daß sie Lyra als ganz neues Geschlecht erschienen, ausgestattet mit verführerischen Kräften und Eigenschaften wie Eleganz, Charme und Anmut. Lyra wurde für diese Gelegenheiten fein herausgeputzt, und die Damen verwöhnten sie und schlossen sie in ihre geistreichen Gespräche ein, die ausschließlich um Menschen kreisten: um diesen Künstler, jenen Politiker und jenen Liebhaber.
Abends ging Mrs. Coulter mit Lyra etwa ins Theater, und dort begegneten sie wieder zahlreichen faszinierenden Menschen, mit denen man sich unterhielt und von denen man sich bewundern ließ. Mrs. Coulter schien alle wichtigen Persönlichkeiten von London zu kennen.
In den Pausen zwischen all diesen Aktivitäten unterrichtete Mrs. Coulter Lyra in den Grundlagen der Geographie und Mathematik. Lyras Wissen hatte große Löcher, wie eine von Mäusen angeknabberte Weltkarte, denn sie hatte in Jordan keinen zusammenhängenden und systematischen Unterricht bekommen. Dort war ein junger Wissenschaftler beauftragt worden, sie einzufangen und in dem und dem Fach zu unterrichten, und die Unterrichtsstunden mochten sich eine langweilige Woche hinziehen, bis Lyra zur Erleichterung des Wissenschaftlers »vergaß«, zum Unterricht zu erscheinen. Oder der Wissenschaftler vergaß, in welchem Fach er Lyra unterrichten sollte, und nahm ausführlich das Thema seiner gegenwärtigen Forschungen durch, egal was das war. Es war kein Wunder, daß Lyras Wissen Stückwerk war. So wußte sie zwar von Atomen und Elementarteilchen, von anbaromagnetischen Ladungen und den vier Grundkräften und anderen vereinzelten Erscheinungen der experimentellen Theologie, aber nichts über das Sonnensystem. Als Mrs. Coulter ihr daraufhin erklärte, daß die Erde und fünf weitere Planeten sich um die Sonne drehten, hielt Lyra das für einen Witz und lachte laut.
Sie wollte jedoch unbedingt zeigen, daß sie manches auch wußte, und als Mrs. Coulter von Elektronen anfing, sagte sie fachmännisch: »Das sind negativ geladene Teilchen. Eine Art Staub, nur daß Staub nicht geladen ist.«
Sobald sie das gesagt hatte, fuhr der Kopf von Mrs. Coulters Dæmon hoch, und der Affe sah sie an, das goldene Fell gesträubt, als sei es selbst geladen. Mrs. Coulter legte ihm die Hand auf den Rücken.
»Staub?« sagte sie.
»Ja, Sie wissen schon, der Staub aus dem Weltraum.« »Was weißt du davon, Lyra?«
»Och, er kommt also aus dem Weltraum und läßt die Menschen leuchten, wenn man eine Spezialkamera hat, mit der man das sehen kann. Nur Kinder nicht. Bei Kindern wirkt er nicht.«
»Woher weißt du das?«
Jetzt spürte auch Lyra die starke Spannung, die im Zimmer herrschte, denn Pantalaimon war in Gestalt eines Hermelins auf ihren Schoß gekrochen und zitterte heftig.
»Irgend jemand in Jordan«, sagte sie vage. »Ich weiß nicht mehr, wer. Ich glaube, es war einer der Wissenschaftler.«
»Hast du es im Unterricht gehört?«
»Ja, vielleicht. Oder ich habe es irgendwo aufgeschnappt. Ja, ich glaube, so war es. Dieser Wissenschaftler, ich glaube, er kam aus Neudänemark, er sprach mit dem Kaplan über Staub, und ich kam zufällig vorbei, und es klang interessant, also blieb ich stehen und hörte zu. So war es.«
»Ach so«, sagte Mrs. Coulter.
»Hat er mir das richtig erklärt? Oder habe ich es falsch verstanden?«
»Hm,
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