Der Goldene Kompass
Schule«, sagte Lyra.
»Ach ja? Ich glaubte, deine Mutter hätte dich auf ihre alte Schule geschickt. Ein sehr gutes Institut…«
Lyra war verwirrt, bis sie den Fehler der alten Dame bemerkte.
»Nein! Sie ist nicht meine Mutter! Ich helfe ihr nur. Ich bin ihre persönliche Assistentin«, sagte sie wichtig.
»Ach so. Und wer sind dann deine Eltern?«
Wieder mußte Lyra überlegen, was sie meinte, bevor sie antwortete.
»Ein Graf und eine Gräfin«, sagte sie. »Aber sie sind beide bei einem Luftunfall auf einer Reise in den Norden ums Leben gekommen.«
»Was für ein Graf?«
»Graf Belacqua. Er war Lord Asriels Bruder.«
Der Dæmon der alten Dame, ein scharlachroter Ära, trat wie verärgert von einem Fuß auf den anderen, und die alte Dame runzelte fragend die Stirn. Lyra lächelte freundlich und ging weiter. Sie kam gerade an einer Gruppe von mehreren jungen Männern und einer Frau in der Nähe des großen Sofas vorbei, als das Wort Staub fiel. Lyra hatte inzwischen genug vom gesellschaftlichen Leben mitbekommen, um zu wissen, wann Männer und Frauen flirteten, und sie sah fasziniert dabei zu, aber noch faszinierter war sie, wenn jemand von Staub sprach. Deshalb blieb sie stehen, um zuzuhören. Die Männer schienen Wissenschaftler zu sein, die junge Frau — den Fragen nach zu schließen, die sie stellte — eine Art Studentin.
»Er wurde von einem Moskowiter entdeckt — unterbrechen Sie mich, wenn Sie das schon wissen…«, sagte gerade ein Mann mittleren Alters, den die junge Frau bewundernd anblickte, »von einem Mann namens Rusakow, nach dem die Teilchen meist Rusakow-Teilchen genannt werden. Es handelt sich um Elementarteilchen, die überhaupt nicht mit anderen Teilchen reagieren. Sie sind sehr schwer ausfindig zu machen, aber das Außergewöhnliche ist, daß Menschen sie anzuziehen scheinen.«
»Tatsächlich?« sagte die junge Frau mit großen Augen.
»Und noch außergewöhnlicher ist«, fuhr der Mann fort, »daß einige Menschen sie mehr anziehen als andere. Erwachsene ziehen sie an, aber nicht Kinder. Zumindest kaum und nicht bis zur Pubertät. Das ist übrigens der Grund…«, er senkte die Stimme, trat näher an die junge Frau heran und legte ihr vertraulich die Hand auf die Schulter, »…das ist der Grund, warum die Oblations-Behörde eingerichtet wurde. Wie unsere ehrenwerte Gastgeberin hier Ihnen sagen könnte.«
»Tatsächlich? Hat sie mit der Oblations-Behörde zu tun?«
»Meine Liebe, sie ist die Oblations-Behörde. Die Behörde ist in jeder Beziehung ihre Erfindung…«
Der Mann war im Begriff, fortzufahren, als sein Blick auf Lyra fiel, die ihn unverwandt anstarrte. Er hatte vielleicht zu viel getrunken oder wollte die junge Frau beeindrucken, jedenfalls sagte er: »Ich wette, die kleine Dame hier weiß alles darüber. Du bist vor der Oblations-Behörde ja wohl sicher, oder?«
»O ja«, sagte Lyra. »Mir kann hier nichts passieren. Wo ich früher gewohnt habe, also in Oxford, passierten alle möglichen gefährlichen Sachen. Da wurden Kinder entführt und als Sklaven an die Türken oder so verkauft. Und in Port Meadow gibt es bei Vollmond einen Werwolf, der aus dem alten Nonnenkloster bei Godstow kommt. Ich habe ihn einmal heulen hören. Und die Gobbler…«
»Genau die meine ich«, sagte der Mann. »So heißen doch die Mitglieder der Oblations-Behörde, nicht wahr?«
Lyra spürte, wie Pantalaimon plötzlich zitterte, obwohl er sich sonst untadelig benahm. Die Dæmonen der beiden Erwachsenen, eine Katze und ein Schmetterling, schienen jedenfalls nichts zu bemerken.
»Gobbler?« sagte die junge Frau. »Was für ein seltsamer Name! Warum heißen sie Gobbler?«
Lyra wollte ihr schon eine der blutrünstigen Geschichten über die Gobbler erzählen, die sie sich ausgedacht hatte, um den Kindern in Oxford Angst einzujagen, aber der Mann sprach bereits.
»Nach den Initialen, sehen Sie? General-Oblations-Behörde. Übrigens eine sehr alte Idee. Im Mittelalter übergaben Eltern ihre Kinder der Kirche, damit sie Mönche oder Nonnen wurden. Und diese unglücklichen Kinder nannte man Oblaten. Das bedeutet Opfer, Opfergabe, etwas in der Art. Die Idee wurde aufgegriffen, als man sich an die Erforschung von Staub machte… Wie unsere kleine Freundin hier vermutlich weiß. Warum sprichst du nicht mit Lord Boreal?« fügte er an Lyra gewandt hinzu. »Er freut sich sicher, Mrs. Coulters Schützling kennenzulernen… Da drüben steht er, der Mann mit den grauen Haaren und dem
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