Der Goldene Kompass
kleine Umhängetasche aus weißem Leder überallhin mitzunehmen, um das Alethiometer immer in der Nähe zu haben. Mrs. Coulter zupfte gerade einige zu eng in eine Vase gestopfte Rosen zurecht. Als sie merkte, daß Lyra sich nicht bewegte, blickte sie demonstrativ zur Schlafzimmertür.
»Ach, bitte, Mrs. Coulter, ich mag die Tasche so!« »Nicht in der Wohnung, Lyra. Es sieht absurd aus, bei sich zu Hause eine Umhängetasche zu tragen. Leg sie sofort weg und hilf mir dann mit den Gläsern…«
Es war weniger ihr barscher Ton als die Formulierung »bei sich zu Hause«, die Lyras Starrsinn weckte. Pantalaimon flog auf den Boden, verwandelte sich augenblicklich in einen Iltis und drückte sich mit gekrümmtem Rücken an Lyras kurze, weiße Söckchen. Lyra fühlte sich ermutigt.
»Aber die Tasche stört doch niemanden«, sagte sie, »und sie ist das einzige, das ich wirklich gerne trage. Ich finde wirklich, sie paßt…«
Sie beendete den Satz nicht, denn Mrs. Coulters Dæmon war wie ein goldener Pfeil vom Sofa gesprungen und drückte Pantalaimon auf den Teppich, bevor dieser eine Bewegung machen konnte. Lyra schrie auf vor Schreck und dann vor Angst und Schmerzen, während Pantalaimon sich kreischend und fauchend auf dem Boden wand, den Griff des goldenen Affen jedoch nicht abschütteln konnte. Nach wenigen Sekunden hatte der Affe ihn ganz überwältigt: Mit einer schwarzen Pfote faßte er ihn grob um den Hals, mit den schwarzen Hinterpfoten hielt er seine unteren Glieder fest und mit der noch freien Pfote packte er sein Ohr und zog daran, als wollte er es abreißen. Dabei wirkte er nicht wütend, sondern zeigte eine merkwürdig kalte Gewalt, die grauenhaft anzusehen und noch schlimmer zu spüren war.
Lyra schluchzte; sie war außer sich.
»Nicht! Bitte! Hör auf, uns weh zu tun.«
Mrs. Coulter sah von ihren Blumen auf.
»Dann tu, was ich dir sage«, befahl sie.
»Ich verspreche es!«
Der goldene Affe ließ Pantalaimon los, als sei er ihm plötzlich langweilig geworden. Pantalaimon floh sofort zu Lyra, und sie nahm ihn hoch und küßte und liebkoste ihn.
»Also, Lyra«, sagte Mrs. Coulter.
Lyra drehte sich abrupt um, marschierte wortlos in ihr Schlafzimmer und knallte die Tür hinter sich zu. Doch im nächsten Augenblick ging die Tür wieder auf, und Mrs. Coulter stand vor ihr.
»Lyra, wenn du dich so rüde und ordinär aufführst, bekommst du es mit mir zu tun, und ich bin stärker als du. Du legst die Tasche jetzt augenblicklich weg. Starr mich nicht so finster an. Und schlage nie wieder eine Tür zu, ob ich dabei bin oder nicht. In wenigen Minuten kommen die ersten Gäste, und sie werden hier ein in jeder Hinsicht wohlerzogenes, liebes, charmantes, unschuldiges, aufmerksames und nettes Mädchen antreffen. Das ist mein Wunsch, Lyra, hast du mich verstanden?«
»Ja, Mrs. Coulter.«
»Dann gib mir einen Kuß.«
Mrs. Coulter beugte sich zu ihr herunter und hielt ihr die Wange hin. Lyra mußte sich auf die Zehenspitzen stellen, um sie zu küssen. Sie spürte, wie glatt Mrs. Coulters Haut war; nur ihr Geruch verwirrte sie etwas: Die Haut roch nach Parfüm, aber zugleich irgendwie metallisch. Lyra legte die Umhängetasche auf ihren Ankleidetisch und folgte Mrs. Coulter dann wieder in den Salon.
»Was hältst du von den Blumen, Liebes?« sagte Mrs. Coulter so freundlich, als sei nichts geschehen. »Mit Rosen kann man eigentlich nichts falsch machen, aber manchmal tut man auch zu viel des Guten… Haben die Lieferanten genug Eis gebracht? Sei so nett und frage nach. Warme Drinks sind etwas Fürchterliches…«
Lyra stellte fest, daß es ihr leichtfiel, einen unbeschwerten, heiteren Eindruck zu erwecken, obwohl sie keinen Augenblick Pantalaimons Entsetzen und seinen Haß auf den goldenen Affen vergessen konnte. Im nächsten Moment klingelte es an der Tür, und bald füllte sich der Raum mit elegant gekleideten Damen und gutaussehenden, vornehmen Herren. Lyra ging zwischen ihnen hin und her und bot ihnen Häppchen an, lächelte freundlich und antwortete artig, wenn jemand etwas zu ihr sagte. Sie kam sich vor wie ein Schoßhund, der von allen gestreichelt wurde, und in dem Moment, in dem sie das dachte, breitete Pantalaimon seine Stieglitzflügel aus und zwitscherte laut.
Sie spürte seine Schadenfreude, weil er recht gehabt hatte, und beschloß, sich etwas mehr zurückzuhalten.
»Und wo gehst du zur Schule, Liebes?« fragte eine ältere Dame und musterte Lyra durch eine Lorgnette.
»Ich gehe nicht zur
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