Der Goldene Kompass
dich vor deiner Mutter zu schützen, was er auch zehn Jahre oder noch länger tat. Dann gründete Mrs. Coulter mit Unterstützung ihrer Freunde in der Kirche die Oblations-Behörde, wobei wir nicht wissen, welche Absicht dahintersteckte, und wurde auf diese Weise ebenso mächtig wie Lord Asriel. Deine Eltern sind einflußreich und ehrgeizig, und der Rektor von Jordan stand zwischen beiden.
Nun muß sich der Rektor aber um viele Dinge kümmern. Sein wichtigstes Anliegen ist das College mit seinen Wissenschaftlern. Sieht er es bedroht, muß er etwas unternehmen. Und die Kirche, Lyra, ist in letzter Zeit immer mächtiger geworden. Beim geringsten Anlaß werden Konzile einberufen, und es ist sogar die Rede davon, die Inquisitionsbehörde wiederzubeleben, wovor Gott uns bewahren möge. Der Rektor muß vorsichtig zwischen all diesen Mächten taktieren. Er muß verhindern, daß Jordan College der Kirche abtrünnig wird, sonst könnte es nicht überleben.
Aber auch du liegst dem Rektor am Herzen, mein Kind. Bernie Johansen hat uns das immer wieder versichert. Der Rektor von Jordan und die Wissenschaftler haben dich wie ihr eigenes Kind geliebt. Sie hätten alles getan, um dich zu schützen, und zwar nicht nur, weil sie es Lord Asriel versprochen hatten, sondern deinetwegen. Wenn dich der Rektor also Mrs. Coulter anvertraute, obwohl er Lord Asriel das Gegenteil versprochen hatte, muß er trotz allem geglaubt haben, du wärst bei ihr sicherer aufgehoben als in Jordan College. Und als er versuchte, Lord Asriel zu vergiften, muß er befürchtet haben, Lord Asriels Tun würde euch alle und vielleicht auch uns oder sogar die ganze Welt in Gefahr bringen. Der Rektor ist für mich ein Mann, der vor schreckliche Entscheidungen gestellt ist; wofür er sich auch entscheidet, es wird verhängnisvolle Folgen haben, aber vielleicht richtet die richtige Entscheidung weniger Schaden an als die falsche. Möge Gott mich vor solchen Entscheidungen bewahren.
Und als er dich gehen lassen mußte, gab er dir den Zeichendeuter und beschwor dich, ihn sicher zu verwahren. Ich frage mich, was du seiner Meinung nach damit machen sollst. Da du ihn nicht lesen kannst, ist mir schleierhaft, was er damit beabsichtigt hat.«
»Er meinte, Onkel Asriel hätte das Alethiometer Vorjahren Jordan College geschenkt«, sagte Lyra. Wieder versuchte sie angestrengt, sich zu erinnern. »Und er wollte noch etwas anderes sagen, aber da klopfte es, und er konnte nicht weitersprechen. Vielleicht wollte er mir sagen, ich sollte es auch vor Lord Asriel verstecken.«
»Oder auch das Gegenteil«, sagte John Faa.
»Was meinst du damit, John?« fragte Farder Coram. »Vielleicht wollte er Lyra bitten, es Lord Asriel zurückzugeben, als eine Art Wiedergutmachung dafür, daß er versucht hatte, ihn zu vergiften. Vielleicht glaubte er, daß von Lord Asriel keine Gefahr mehr ausgehe. Oder daß das Instrument Lord Asriel Dinge offenbaren und ihn damit von seinen Zielen abbringen würde. Wenn Lord Asriel jetzt gefangengehalten wird, könnte es ihm helfen freizukommen. Tja, Lyra, am besten nimmst du den Zeichendeuter wieder an dich und paßt gut auf ihn auf. Du hast ihn ja bis jetzt sicher aufbewahrt, ich überlasse ihn dir unbesorgt. Aber eines Tages brauchen wir vielleicht seinen Rat, und dann werden wir dich wohl darum bitten.«
Er legte den Samt wieder über dem Alethiometer zusammen und schob es über den Tisch zurück.
Lyra hätte gern noch alle möglichen Fragen gestellt, empfand aber plötzlich Scheu vor dem massigen Mann mit den von Falten und Runzeln umgebenen, scharfen und zugleich freundlichen Augen.
Aber eines mußte sie noch wissen.
»Wer war die Gypterin, die mich gestillt hat?«
»Ach so, das war natürlich Billy Costas Mutter. Sie hat es dir nicht gesagt, weil ich es ihr verboten habe, aber sie weiß, worüber wir uns hier unterhalten, und du sollst es ruhig wissen. Du gehst jetzt am besten zu ihr zurück. Du hast eine Menge zum Nachdenken, mein Kind. In drei Tagen haben wir wieder ein Thing, und dort besprechen wir, was wir tun werden. Mach’s gut. Gute Nacht, Lyra.«
»Gute Nacht, Lord Faa, gute Nacht, Farder Coram«, sagte Lyra höflich und drückte mit einer Hand das Alethiometer an die Brust, mit der anderen Pantalaimon.
Die beiden Alten lächelten ihr freundlich zu. Vor der Tür des Besprechungszimmers wartete Ma Costa, und als wäre seit Lyras Geburt nichts geschehen, schloß die Bootsmutter sie in ihre mächtigen Arme und gab ihr einen Kuß, bevor
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