Der Goldene Kompass
Familienoberhäupter auf dem Podium versammelt waren, gab Farder Coram John Faa das Blatt mit seinen Notizen, worauf dieser sich erneut an die Versammelten wandte.
»Freunde, wir haben ein Aufgebot von einhundertsiebzig Mann. Ich bin stolz darauf und danke euch. Und so schwer, wie das Gold ist, zweifle ich nicht daran, daß ihr tief in eure Truhen gegriffen habt, und auch dafür danke ich euch herzlich. Wie geht es jetzt weiter? Wir mieten ein Schiff, fahren nach Norden, suchen die Kinder und befreien sie. Nach allem, was wir wissen, kann es dabei zu Kämpfen kommen. Es wären weder unsere ersten noch unsere letzten, aber wir haben noch nie gegen Menschen kämpfen müssen, die Kinder entführen, und dazu brauchen wir unser ganzes Können. Aber wir werden nicht ohne unsere Kinder zurückkehren. Ja, bitte, Dirk Vries?«
Ein Mann stand auf und sagte: »Lord Faa, wißt Ihr, warum die Kinder entführt wurden?«
»Soviel wir gehört haben, aus einem theologischen Grund. Es geht um ein Experiment, wir wissen aber nicht, was für eins.
Ehrlich gesagt wissen wir nicht einmal, ob den Kindern Schaden zugefügt wird. Aber egal, ob es gut oder schlecht ist, was sie tun, sie haben kein Recht, sich nachts an Kinder heranzumachen und sie aus ihren Familien zu reißen. Ja, Raymond van Gerrit?«
Der Mann, der bereits beim ersten Thing gesprochen hatte, erhob sich und sagte: »Es geht um das Kind, von dem Ihr gesagt habt, es würde gesucht, und das heute in der ersten Reihe sitzt. Ich habe gehört, die Häuser der Leute, die am Rand der Fens leben, wurden ihretwegen auf den Kopf gestellt. Und wie ich erfahren habe, soll genau am heurigen Tag wegen dieses Kindes im Parlament die Aufhebung unserer alten Privilegien beantragt werden. Jawohl, Freunde« — er übertönte das erschrokkene Geflüster im Saal — »ein Gesetz soll verabschiedet werden, das uns das Recht auf freie Bewegung innerhalb und außerhalb der Fens nimmt. Deshalb, Lord Faa, wollen wir wissen: Wer ist dieses Kind, dessentwegen wir in solche Bedrängnis geraten? Soviel ich weiß, ist es kein gyptisches Kind. Wie konnte es so weit kommen, daß ein Kind von Landlopern uns alle in Gefahr bringt?«
Lyra sah zu John Faas mächtiger Gestalt auf. Ihr Herz pochte so laut, daß sie kaum die ersten Worte seiner Antwort verstehen konnte.
»Sprich es ruhig aus, Raymond, ziere dich nicht«, sagte er. »Du willst also, daß wir das Kind jenen ausliefern, vor denen es geflohen ist, stimmt das?«
Trotzig und mit finsterem Blick stand der Mann da und schwieg.
»Na gut, vielleicht willst du es, vielleicht auch nicht«, fuhr John Faa fort. »Aber wenn hier jemand einen Grund braucht, Gutes zu tun, möge er über folgendes nachdenken. Das kleine Mädchen ist die Tochter von keinem Geringeren als Lord Asriel. Für alle, die es vergessen haben: Es war Lord Asriel, der sich bei den Türken für das Leben von Sam Broekman eingesetzt hat. Es war Lord Asriel, der den gyptischen Booten freie Fahrt auf den Kanälen seiner Ländereien gewährte. Es war Lord Asriel, der zu unserem großen und nachhaltigen Nutzen im Parlament das Gesetz über Wasserstraßen zu Fall brachte. Und es war Lord Asriel, der beim Hochwasser im Jahre 53 Tag und Nacht aktiv war und zweimal selbst ins Wasser sprang, um die Kinder Ruud und Nellie Koopman zu retten. Hast du das alles vergessen? Schäme dich!
Und nun wird derselbe Lord Asriel in der entlegensten, kältesten und finstersten Wildnis gefangengehalten, in der Festung von Svalbard. Muß ich dir erklären, welche Kreaturen ihn dort bewachen? Seine kleine Tochter befindet sich hier in unserer Obhut, und Raymond van Gerrit will sie für ein wenig Ruhe und Frieden den Behörden übergeben. Stimmt das, Ray mond? Steh auf und antworte, Mann.«
Aber Raymond van Gerrit war auf seinen Platz gesunken, und nichts hätte ihn dazu bringen können, wieder aufzustehen. Ein leises mißbilligendes Gemurmel lief durch die Halle, und neben einem tiefen, glühenden Stolz auf ihren tapferen Vater empfand Lyra zugleich die Scham, die van Gerrit verspüren mußte.
John Faa wandte sich an die Männer auf dem Podium.
»Nicholas Rokeby, ich beauftrage dich, ein Schiff zu beschaffen und darauf das Kommando zu führen, wenn wir aufbrechen. Adam Stefanski, du bist für Waffen und Munition zuständig und befehligst die Männer im Kampf. Roger van Poppel, du kümmerst dich um die
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