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Der Goldene Kompass

Der Goldene Kompass

Titel: Der Goldene Kompass Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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sie sie zum Boot zurückbrachte.

Enttäuschung
     
     
    Lyra mußte sich erst daran gewöhnen, was sie über ihre Vergangenheit erfahren hatte, und das konnte nicht von heute auf morgen gelingen. Daß Lord Asriel ihr Vater war, nun gut, doch Mrs. Coulter als Mutter zu akzeptieren war längst nicht so einfach, auch wenn sie darüber vor wenigen Monaten noch begeistert gewesen wäre, wie sie sich verwirrt eingestehen mußte.
    Doch es war nicht Lyras Art, sich lange zu grämen. Schließlich gab es in der Stadt vieles zu entdecken, und nur zu gern verblüffte sie die gyptischen Kinder mit ihren Geschichten. Noch vor Ablauf der drei Tage war sie eine Meisterin im Stocherkahnfahren — oder hielt sich zumindest dafür — und hatte eine Schar von Kindern um sich versammelt, die gebannt den Geschichten über ihren mächtigen, zu Unrecht gefangengehaltenen Vater lauschten.
    »Und dann war eines Abends der türkische Botschafter zum Abendessen in Jordan. Er hatte vom Sultan persönlich den Auftrag, meinen Vater zu töten, und er trug am Finger einen Ring mit einem Stein, der innen hohl und mit Gift gefüllt war. Als der Wein bei Tisch herumgereicht wurde, tat er so, als wolle er über das Glas meines Vaters langen, und dabei schüttete er heimlich das Gift hinein. Das geschah so schnell, daß niemand es sah, außer…«
    »Was denn für ein Gift?« wollte ein Mädchen mit magerem  Gesicht wissen.
    »Das Gift einer ganz besonderen türkischen Schlange«,  phantasierte Lyra, »die durch Flötenspiel angelockt wird. Dann  wirft man ihr einen in Honig getränkten Schwamm hin, und  wenn die Schlange hineinbeißt, bleibt sie mit ihren Zähnen  darin hängen. Dann packt man sie und zapft ihr das Gift ab.  Jedenfalls hatte mein Vater gesehen, was der Türke getan hatte,  und er sagte: Meine Herren, ich möchte einen Toast auf die  Freundschaft zwischen Jordan College und dem College von  Izmir ausbringen.‹ Dem College von Izmir gehörte nämlich der  türkische Botschafter an. Dann sagte er: ›Und zum Zeichen  unserer Freundschaft wollen wir die Gläser austauschen und  aus dem Glas unseres Nachbarn trinken.‹
    Da saß der türkische Botschafter in der Klemme, denn eine  Weigerung wäre eine tödliche Beleidigung gewesen, und weil  er wußte, daß der Wein vergiftet war, konnte er ihn auch nicht  trinken. Er wurde totenblaß und fiel in Ohnmacht. Als er wieder zu sich kam, saßen die anderen alle noch wartend da und  sahen ihn an. Und da mußte er entweder das Gift trinken oder  alles zugeben.«
    »Und was hat er getan?«
    »Er hat es getrunken. Er brauchte fünf volle Minuten, um zu  sterben, und litt die ganze Zeit furchtbare Qualen.«
    »Warst du dabei?«
    »Nein, denn Mädchen dürfen nicht am Tisch mit den  Ehrengästen sitzen. Aber hinterher, als man ihn aufbahrte, habe  ich seine Leiche gesehen. Die Haut war verschrumpelt wie ein  alter Apfel, und die Augen waren schon fast aus dem Kopf  gesprungen. Man mußte sie wirklich wieder in die Augenhöhlen hineindrücken…«
    Und so weiter.
    Zur gleichen Zeit klopfte die Polizei am Rand der Fens an Türen, durchsuchte Dachkammern und Nebengebäude, überprüfte Papiere und verhörte jeden, der behauptete, ein kleines blondes Mädchen gesehen zu haben. In Oxford wurde noch verbissener gefahndet. Jordan College wurde von der staubigsten Rumpelkammer bis zum finstersten Keller durchkämmt, desgleichen die Colleges von Gabriel und St. Michael, bis die Leiter aller Colleges gemeinsam protestierten und auf ihre alten Rechte pochten. Das einzige, was Lyra von dieser Suche mitbekam, war das unaufhörliche Brummen der am Himmel kreuzenden, mit Gasmotoren betriebenen Luftschiffe. Wegen der tiefhängenden Wolken und der gesetzlich vorgeschriebenen Mindestflughöhe über den Fens waren die Luftschiffe zwar nicht zu sehen, aber niemand wußte, ob sie nicht ausgeklügelte Spionagegeräte an Bord hatten. Auf jeden Fall ging Lyra in Deckung, sobald sie sie hörte, oder sie bedeckte ihr auffallend  helles Haar mit ihrem Regenhut aus Ölzeug.
    Sie fragte Ma Costa über jede Einzelheit ihrer Geburt und  der Zeit danach aus. Die einzelnen Ereignisse verwob sie in  ihrer Phantasie zu einem Bildteppich, der noch anschaulicher  und suggestiver war als ihre erfundenen Geschichten. Immer  wieder malte sie sich die Flucht aus der Hütte aus, das Versteck  im Schrank, die barsche Herausforderung zum Duell, das Klirren der Schwerter…
    »Schwerter? Großer Gott, Mädchen, wo

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