Der Goldene Kompass
schüttelte die Kugeln ab, als wären es Regentropfen. Er stürzte sich mit seiner quietschenden, scheppernden Rüstung auf den Wachmann, bevor dieser fliehen konnte, und warf ihn zu Boden. Wie ein Blitz fuhr der Dæmon des Wachmanns, ein Husky, dem Bären an die Kehle, doch Iorek Byrnison beachtete ihn sowenig wie eine Fliege. Mit seiner gewaltigen Pranke zog er den Wachmann zu sich heran, beugte sich über ihn und nahm seinen Kopf zwischen die Kiefer. Lyra wußte genau, was als nächstes geschehen würde: Der Bär würde den Schädel des Mannes wie ein Ei zerquetschen, und dann käme es zu einem blutigen Kampf mit noch mehr Toten und zu weiteren Verzögerungen; und schließlich würden sie überhaupt nicht mehr loskommen — ob mit oder ohne den Bären.
Ohne nachzudenken, rannte sie zu ihm hin und legte die Hand auf die einzige ungeschützte Stelle des Bären, die Lücke zwischen dem Helm und der großen Schulterplatte, die entstand, wenn er den Kopf senkte, und durch die sie zwischen den rostigen Metallrändern das gelbweiße Fell schimmern sah. Sie grub die Finger in das Fell, und sofort flog auch Pantalaimon an diese Stelle und verwandelte sich in eine sprungbereite Wildkatze, um Lyra notfalls verteidigen zu können. Doch Iorek Byrnison rührte sich nicht, und daraufhin stellten die Schützen das Feuer ein.
»Iorek!« sagte Lyra heftig. »Hör mir zu! Du schuldest mir noch einen Gefallen, stimmt’s? Jetzt kannst du dich revanchieren. Tu, was ich dir sage. Kämpfe nicht mit diesen Männern. Wir gehen jetzt einfach von hier weg. Wir brauchen dich, Iorek, du darfst nicht hier bleiben. Komm mit mir zum Hafen, und sieh dich nicht mehr um. Farder Coram und John Faa sollen für dich verhandeln, die kriegen das schon hin. Also laß den Mann hier los und komm mit…«
Langsam öffnete der Bär das Maul. Der Kopf des Wachmanns blutete, war naß und kreidebleich; er schlug hart auf den Boden, als der Mann in Ohnmacht fiel. Sein Dæmon begann ihn sofort zu liebkosen, während sich der Bär Lyra zuwandte.
Niemand rührte sich. Alle beobachteten, wie der Bär auf den Befehl des kleinen Mädchens mit dem Katzendæmon von seinem Opfer abließ, und erst als Iorek Byrnison an der Seite Lyras schwerfällig durch ihre Mitte in Richtung Hafen trottete, machten sie eilig Platz.
Lyra, die nur auf den Bären achtete, merkte nichts von der Verwirrung, die sie hinterließ, und von der Angst und der Wut, die sich entluden, sobald der Bär fort war. Sie ging einfach neben ihm her, und Pantalaimon sprang den beiden voraus, als wollte er ihnen den Weg bahnen.
Am Hafen angekommen, senkte Iorek Byrnison den Kopf, öffnete mit einer Klaue den Helm und ließ ihn scheppernd auf den gefrorenen Boden fallen. Gypter, die mitbekommen hatten, daß sich draußen etwas tat, kamen aus dem Cafe und beobachteten im Schein der anbarischen Lampen, die auf dem Schiffsdeck brannten, wie Iorek Byrnison auch die restliche Rüstung abschüttelte und auf einem Haufen auf dem Kai zurückließ. Wortlos trottete er zum Wasser, glitt hinein, ohne daß sich eine Welle kräuselte, und verschwand.
»Was ist passiert?« fragte Tony Costa, als er die empörten Stimmen von Einwohnern und Polizisten hörte, die aus den höher gelegenen Straßen zum Hafen hinunterstürzten.
Lyra erzählte ihm alles so ausführlich sie konnte. »Aber wo steckt er denn jetzt?« fragte Tony. »Er kann doch nicht einfach seine Rüstung hier liegenlassen. Die holen sie sich doch zurück, sobald sie hier sind!«
Lyra befürchtete das auch, denn an der Ecke tauchte bereits der erste Polizist auf, gefolgt von weiteren, und dahinter kamen der Sysselmann und der Priester und zwanzig oder dreißig Schaulustige und schließlich John Faa und Farder Coram, die mit den anderen Schritt zu halten versuchten.
Doch als sie die Gruppe am Kai erblickten, blieben sie stehen, denn dort war mittlerweile noch jemand erschienen. Auf der Rüstung des Bären saß die langgliedrige Gestalt von Lee Scoresby. Er hatte einen Knöchel über das Knie geschlagen, hielt die längste Pistole, die Lyra jemals gesehen hatte, in der Hand und zielte damit ungerührt auf den stattlichen Bauch des Sysselmanns.
»Mir scheint, ihr habt nicht besonders gut auf die Rüstung meines Freundes aufgepaßt«, sagte er im Plauderton. »Nein wirklich, schaut euch bloß mal den Rost hier an! Und es würde mich überhaupt nicht überraschen,
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