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Der Goldene Kompass

Der Goldene Kompass

Titel: Der Goldene Kompass Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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sich in einen Dachs.
    Lyra ahnte, was er vorhatte. Dæmonen können sich nur wenige Schritte von den Menschen entfernen, zu denen sie gehören, und wenn sie am Zaun stehenblieb, würde er es als Vogel niemals schaffen, in die Nähe des Bären zu kommen; also mußte er sie ziehen.
    Sie war wütend und unglücklich. Pantalaimon grub seine Dachsklauen in den Boden und stemmte sich Schritt für Schritt vorwärts. Lyra spürte, wie er an der Verbindung zwischen ihnen zog und zerrte, und sie empfand eine ihr bisher unbekannte Qual, eine Mischung aus körperlichen Schmerzen tief in der Brust und einer heftigen Traurigkeit und Liebe. Und sie wußte, daß er dasselbe empfand. Alle Heranwachsenden probierten hin und wieder aus, wie weit sie sich voneinander entfernen konnten, doch wie groß war jedesmal die Erleichterung, wenn  sie zueinander zurückkehrten.
    Pantalaimon zerrte noch stärker.
    »Nicht, Pan!«
    Aber er hörte nicht auf. Der Bär sah regungslos zu. Die  Schmerzen in Lyras Brust wurden immer unerträglicher, und  ein sehnsüchtiges Schluchzen stieg in ihrer Kehle auf. 
    »Pan…«
    Schon war Lyra durchs Tor gerannt und schlitterte über den  gefrorenen Schlamm auf Pantalaimon zu. Er verwandelte sich  in eine Wildkatze und sprang in ihre Arme. Sie klammerten  sich ganz fest aneinander und schluchzten beide vor Kummer. 
    »Ich dachte schon, du wolltest wirklich…«
    »Nein…«
    »Ich hätte nie geglaubt, wie weh das tut…«
    Wütend wischte sie die Tränen weg und schniefte laut. Pantalaimon kuschelte sich in ihre Arme, und sie wußte, daß sie lieber sterben wollte, als noch einmal von ihm getrennt zu sein  und diese Traurigkeit zu spüren; beim nächsten Mal würde sie  vor Kummer und Entsetzen verrückt werden. Auch wenn sie  einmal starb, würden sie noch Zusammensein, genau wie die  Wissenschaftler in der Krypta von Jordan.
    Dann blickten das Mädchen und sein Dæmon zu dem Bären  auf. Er hatte keinen Dæmon. Er war allein, immer allein. Vor  lauter Mitleid und Rührung hätte Lyra fast die Hand ausgestreckt und sein verfilztes Fell berührt, aber ihre Höflichkeit  und der Blick seiner kalten, wilden Augen hielten sie zurück. 
    »Iorek Byrnison«, sagte sie.
    »Ja?«
    »Lord Faa und Farder Coram versuchen gerade, dir deine  Rüstung wiederzuholen.«
    Der Bär zuckte mit keiner Miene und sagte nichts. Es war  klar, wie er ihre Chancen einschätzte.
    »Und ich weiß, wo sie ist«, sagte Lyra. »Wenn ich es dir sage,  kannst du sie dir dann nicht selbst holen?«
    »Woher willst du denn wissen, wo sie ist?«
    »Ich habe ein Instrument, von dem ich das ablesen kann. Und  ich finde, ich sollte dir sagen, wo die Rüstung ist, denn schließ  lich haben sie dich ja zuerst reingelegt. Das war bestimmt nicht  in Ordnung, das hätten sie nicht tun dürfen. Lord Faa will dem  Sysselmann das sagen, aber wahrscheinlich geben sie dir die  Rüstung trotzdem nicht zurück. Wenn ich es dir verrate,  kommst du dann mit uns und hilfst uns, die Kinder aus Bolvangar zu befreien?«
    »Ja.«
    »Ich…« Sie wollte ihre Nase nicht in seine Angelegenheiten  stecken, aber ihre Neugier siegte. »Wieso machst du dir eigentlich nicht einfach aus dem ganzen Blech hier eine neue  Rüstung, Iorek Byrnison?«
    »Weil die Bleche hier wertlos sind. Schau her.« Er hielt die  Motorverkleidung mit einer Tatze hoch, fuhr an der anderen  Tatze eine Kralle aus und schlitzte das Blech wie mit einem  Dosenöffner auf. »Meine Rüstung besteht aus Himmelseisen  und wurde extra für mich gemacht. Die Rüstung eines Bären ist  seine Seele, so wie dein Dæmon deine Seele ist. Es wäre so, als  würdest du ihn« — er zeigte auf Pantalaimon — »durch eine mit  Sägespänen ausgestopfte Puppe ersetzen. Das ist der Unterschied! Also, wo ist meine Rüstung?«
    »Hör zu, erst mußt du versprechen, daß du keine Rache  nimmst. Sie hätten dir die Rüstung nicht wegnehmen dürfen,  aber damit mußt du dich jetzt abfinden.«
    »Einverstanden. Keine Rache hinterher, aber ich ich tue alles, um sie zu bekommen. Wenn sie mich daran hindern wollen,  müssen sie sterben.«
    »Der Priester hat sie in seinen Keller eingeschlossen«, sagte  Lyra. »Er glaubt, daß ein Geist in ihr steckt, und versucht, ihn  auszutreiben. Also, dort ist sie jedenfalls.«
    Iorek Byrnison richtete sich auf und sah nach Westen. Die  untergehende Sonne fiel auf sein Gesicht und ließ es in der  düsteren Umgebung gelb aufleuchten. Lyra spürte

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