Der Goldene Kompass
sich in einen Dachs.
Lyra ahnte, was er vorhatte. Dæmonen können sich nur wenige Schritte von den Menschen entfernen, zu denen sie gehören, und wenn sie am Zaun stehenblieb, würde er es als Vogel niemals schaffen, in die Nähe des Bären zu kommen; also mußte er sie ziehen.
Sie war wütend und unglücklich. Pantalaimon grub seine Dachsklauen in den Boden und stemmte sich Schritt für Schritt vorwärts. Lyra spürte, wie er an der Verbindung zwischen ihnen zog und zerrte, und sie empfand eine ihr bisher unbekannte Qual, eine Mischung aus körperlichen Schmerzen tief in der Brust und einer heftigen Traurigkeit und Liebe. Und sie wußte, daß er dasselbe empfand. Alle Heranwachsenden probierten hin und wieder aus, wie weit sie sich voneinander entfernen konnten, doch wie groß war jedesmal die Erleichterung, wenn sie zueinander zurückkehrten.
Pantalaimon zerrte noch stärker.
»Nicht, Pan!«
Aber er hörte nicht auf. Der Bär sah regungslos zu. Die Schmerzen in Lyras Brust wurden immer unerträglicher, und ein sehnsüchtiges Schluchzen stieg in ihrer Kehle auf.
»Pan…«
Schon war Lyra durchs Tor gerannt und schlitterte über den gefrorenen Schlamm auf Pantalaimon zu. Er verwandelte sich in eine Wildkatze und sprang in ihre Arme. Sie klammerten sich ganz fest aneinander und schluchzten beide vor Kummer.
»Ich dachte schon, du wolltest wirklich…«
»Nein…«
»Ich hätte nie geglaubt, wie weh das tut…«
Wütend wischte sie die Tränen weg und schniefte laut. Pantalaimon kuschelte sich in ihre Arme, und sie wußte, daß sie lieber sterben wollte, als noch einmal von ihm getrennt zu sein und diese Traurigkeit zu spüren; beim nächsten Mal würde sie vor Kummer und Entsetzen verrückt werden. Auch wenn sie einmal starb, würden sie noch Zusammensein, genau wie die Wissenschaftler in der Krypta von Jordan.
Dann blickten das Mädchen und sein Dæmon zu dem Bären auf. Er hatte keinen Dæmon. Er war allein, immer allein. Vor lauter Mitleid und Rührung hätte Lyra fast die Hand ausgestreckt und sein verfilztes Fell berührt, aber ihre Höflichkeit und der Blick seiner kalten, wilden Augen hielten sie zurück.
»Iorek Byrnison«, sagte sie.
»Ja?«
»Lord Faa und Farder Coram versuchen gerade, dir deine Rüstung wiederzuholen.«
Der Bär zuckte mit keiner Miene und sagte nichts. Es war klar, wie er ihre Chancen einschätzte.
»Und ich weiß, wo sie ist«, sagte Lyra. »Wenn ich es dir sage, kannst du sie dir dann nicht selbst holen?«
»Woher willst du denn wissen, wo sie ist?«
»Ich habe ein Instrument, von dem ich das ablesen kann. Und ich finde, ich sollte dir sagen, wo die Rüstung ist, denn schließ lich haben sie dich ja zuerst reingelegt. Das war bestimmt nicht in Ordnung, das hätten sie nicht tun dürfen. Lord Faa will dem Sysselmann das sagen, aber wahrscheinlich geben sie dir die Rüstung trotzdem nicht zurück. Wenn ich es dir verrate, kommst du dann mit uns und hilfst uns, die Kinder aus Bolvangar zu befreien?«
»Ja.«
»Ich…« Sie wollte ihre Nase nicht in seine Angelegenheiten stecken, aber ihre Neugier siegte. »Wieso machst du dir eigentlich nicht einfach aus dem ganzen Blech hier eine neue Rüstung, Iorek Byrnison?«
»Weil die Bleche hier wertlos sind. Schau her.« Er hielt die Motorverkleidung mit einer Tatze hoch, fuhr an der anderen Tatze eine Kralle aus und schlitzte das Blech wie mit einem Dosenöffner auf. »Meine Rüstung besteht aus Himmelseisen und wurde extra für mich gemacht. Die Rüstung eines Bären ist seine Seele, so wie dein Dæmon deine Seele ist. Es wäre so, als würdest du ihn« — er zeigte auf Pantalaimon — »durch eine mit Sägespänen ausgestopfte Puppe ersetzen. Das ist der Unterschied! Also, wo ist meine Rüstung?«
»Hör zu, erst mußt du versprechen, daß du keine Rache nimmst. Sie hätten dir die Rüstung nicht wegnehmen dürfen, aber damit mußt du dich jetzt abfinden.«
»Einverstanden. Keine Rache hinterher, aber ich ich tue alles, um sie zu bekommen. Wenn sie mich daran hindern wollen, müssen sie sterben.«
»Der Priester hat sie in seinen Keller eingeschlossen«, sagte Lyra. »Er glaubt, daß ein Geist in ihr steckt, und versucht, ihn auszutreiben. Also, dort ist sie jedenfalls.«
Iorek Byrnison richtete sich auf und sah nach Westen. Die untergehende Sonne fiel auf sein Gesicht und ließ es in der düsteren Umgebung gelb aufleuchten. Lyra spürte
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