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Der Goldene Kompass

Der Goldene Kompass

Titel: Der Goldene Kompass Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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wieder durch Brombeergestrüpp und niedrige Büsche versperrt. Der Bär stürmte hindurch, als seien es Spinngewebe.
    Zwischen schwarzen Felsvorsprüngen erklommen sie den niedrigen Bergkamm, und schon bald konnten sie von den Zurückgebliebenen nicht mehr gesehen werden. Lyra hätte gern mit dem Bären gesprochen. Wenn er ein Mensch gewesen wäre, hätte sie bestimmt schon Freundschaft mit ihm geschlossen; aber er war so seltsam und wild und kalt, daß sie, vielleicht zum ersten Mal in ihrem Leben, zu schüchtern war, ihn anzusprechen. Deshalb paßte sie sich nur seinen Bewegungen an, den langen Sätzen, in denen er unermüdlich dahinjagte, und schwieg. Vielleicht war ihm das sowieso lieber, überlegte sie, denn in den Augen eines Panzerbären war sie bestimmt nur ein daherplapperndes Junges, das gerade dem Säuglingsalter entwachsen war. Lyra hatte bisher nur selten über sich nachgedacht, und sie fand diese Erfahrung zwar interessant, aber unerfreulich und eigentlich genauso unbequem, wie auf einem Bären zu reiten. Iorek Byrnison bewegte beim Laufen immer beide Beine einer Seite zugleich und schaukelte in einem stetigen, kraftvollen Rhythmus hin und her. Lyra merkte, daß sie nicht einfach ruhig auf ihm sitzen konnte, sondern mit seinen Bewegungen mitgehen mußte.
    Sie waren eine gute Stunde unterwegs; Lyra war steif und wundgeritten und deshalb sehr froh, als Iorek Byrnison langsamer wurde und stehenblieb.
    »Sieh nach oben«, sagte er.
    Lyra blickte auf, mußte sich aber erst die Augen mit der Innenseite des Handgelenks trocknen, denn ihr war so kalt, daß sie vor lauter Tränen alles nur verschwommen sah. Als sie wieder scharf sehen konnte, verschlug es ihr beim Anblick des Himmels beinahe den Atem. Die Aurora war zu einem flirrenden Glimmen verblaßt, aber die Sterne funkelten hell wie Diamanten, und über das dunkle, diamantenübersäte Firmament flogen Hunderte und Aberhunderte kleiner schwarzer Schatten aus Osten und Süden in Richtung Norden.
    »Sind das Vögel?« fragte sie.
    »Nein, Hexen«, antwortete der Bär.
    »Hexen! Was haben sie vor?«
    »Vielleicht fliegen sie in den Krieg. Ich habe noch nie so viele auf einmal gesehen.«
    »Kennst du eigentlich irgendwelche Hexen, Iorek?«
    »Ich habe einigen gedient und gegen einige auch gekämpft. Lord Faa müßte bei diesem Anblick jedenfalls einen ziemlichen Schreck bekommen. Wenn sie unterwegs sind, um unseren Feinden zu helfen, solltet ihr eigentlich alle Angst haben.«
    »Lord Faa hätte bestimmt keine Angst. Du doch auch nicht, oder?«
    »Noch nicht. Und wenn ich Angst bekomme, unterdrücke ich sie. Aber wir sollten Lord Faa auf jeden Fall von den Hexen erzählen, denn die Männer haben sie vielleicht nicht gesehen.«
    Er trottete langsam weiter, und Lyra beobachtete den Himmel, bis die Kälte ihr wieder Tränen in die Augen trieb und den nicht enden wollenden Zug der nordwärts fliegenden Hexen verschwimmen ließ.
    Schließlich blieb Iorek Byrnison stehen und sagte: »Da ist das Dorf.«
    Sie blickten einen zerklüfteten, unwegsamen Hang hinab auf eine Siedlung von Holzhäusern neben einer weiten, vollkommen ebenen Schneefläche, die, wie Lyra annahm, der zugefrorene See sein mußte. Ein Holzsteg für Boote bestätigte ihre Vermutung. Sie waren höchstens noch fünf Minuten von dem Dorf entfernt.
    »Was hast du jetzt vor?« fragte der Bär.
    Lyra rutschte von seinem Rücken hinunter und merkte, daß sie kaum stehen konnte. Ihr Gesicht war starr vor Kälte, und sie hatte wackelige Beine, aber sie hielt sich an Ioreks Fell fest und stampfte mit den Füßen, bis sie spürte, wie ihre Kräfte zurückkehrten.
    »Da unten lebt ein Kind oder ein Geist oder etwas Ähnliches«, sagte sie, »vielleicht auch in der Nähe des Dorfes, ich weiß es nicht. Ich muß das Kind finden und, wenn ich kann, zu John Faa und den anderen bringen. Eigentlich dachte ich, es sei ein Geist, aber vielleicht habe ich ja nicht richtig verstanden, was der Symboldeuter mir sagen wollte.«
    »Wenn er sich draußen aufhält, braucht er irgendeinen Unterschlupf.«
    »Und ich glaube nicht, daß er tot ist…«, sagte Lyra, obwohl sie alles andere als sicher war. Das Alethiometer hatte etwas Unheimliches und Unnatürliches gezeigt, das ihr angst machte. Aber auf der anderen Seite: Sie war Lord Asriels Tochter! Und wer stand unter ihrem Kommando? Ein mächtiger Bär! Warum sollte sie da überhaupt Angst haben?
    »Los, laß uns nachsehen«, sagte sie.
    Sie kletterte wieder auf seinen Rücken,

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