Der Goldene Kompass
und Iorek machte sich auf den Weg den zerklüfteten Hang hinunter, jetzt nicht mehr im Paßgang, sondern mit gleichmäßigen Schritten. Die Dorfhunde witterten oder hörten ihr Kommen schon von weitem und begannen, entsetzlich zu heulen; die Rentiere liefen aufgeregt in den Gehegen hin und her, und ihre Geweihe klapperten wie trockene Hölzer gegeneinander.
Als sie das erste Haus erreichten, drehte sich Lyra nach rechts und links und spähte angestrengt in die Dunkelheit. Die Aurora war bereits verblaßt, und der Mond würde erst viel später aufgehen. Hier und da flackerte Licht unter einem dick mit Schnee bedeckten Dach, und Lyra meinte, hinter manchen Fensterscheiben bleiche Gesichter zu sehen. Sie stellte sich vor, wie erstaunt die Dorfbewohner beim Anblick eines Kindes sein mußten, das auf einem großen, weißen Bären ritt.
In der Mitte des kleinen Dorfes, auf einer freien Fläche neben der Anlegestelle, lagen an Land gezogene Boote wie kleine Hügel unter dem Schnee. Das Gebell der Hunde war ohrenbetäubend, und gerade, als Lyra überlegte, daß inzwischen das ganze Dorf wach sein mußte, ging eine Tür auf, und ein Mann mit einem Gewehr kam heraus. Sein Dæmon, ein Marder, sprang auf einen Holzstoß neben der Tür, so daß der Schnee nur so stäubte. Sofort rutschte Lyra vom Rücken des Bären hinunter und stellte sich zwischen den Mann und Iorek Byrnison, denn schließlich hatte sie ja dem Bären gesagt, er brauche keine Rüstung.
Der Mann sagte etwas in einer Sprache, die sie nicht verstand, Iorek Byrnison antwortete in derselben Sprache, worauf der Mann einen kurzen, angstvollen Laut von sich gab.
»Er glaubt, wir seien Teufel«, erklärte Iorek Lyra. »Was soll ich ihm sagen?«
»Sag ihm, daß wir keine Teufel sind, aber Teufel als Freunde haben. Und wir suchen nach… nur nach einem Kind, aber einem seltsamen Kind. Sag ihm das.«
Kaum hatte der Bär ausgesprochen, zeigte der Mann nach rechts auf eine etwas weiter entfernte Stelle und begann hastig zu reden.
»Er fragt, ob wir gekommen sind, um das Kind mitzunehmen«, sagte Iorek Byrnison. »Sie fürchten sich nämlich vor ihm und haben versucht, es zu verjagen, aber es kommt immer wieder zurück.«
»Sag ihm, daß wir es mitnehmen, aber daß sie sehr gemein zu ihm waren. Wo ist es?«
Der Mann erklärte es und fuchtelte dabei so aufgeregt mit den Händen herum, daß Lyra schon fürchtete, er könnte aus Versehen sein Gewehr abfeuern. Doch sobald er zu Ende gesprochen hatte, hastete er ins Haus zurück und warf die Tür hinter sich zu. Lyra sah jetzt hinter jedem Fenster Gesichter.
»Wo ist das Kind?« fragte sie.
»Im Fischerhaus«, antwortete der Bär. Er drehte sich um und trottete zur Bootsanlegestelle hinunter.
Lyra folgte ihm. Sie war schrecklich aufgeregt. Der Bär lief auf einen schmalen Holzschuppen zu, hob schnüffelnd den Kopf und wandte ihn hierhin und dorthin. An der Tür blieb er stehen und sagte: »Hier drin.«
Lyras Herz hämmerte wie verrückt, und sie konnte kaum atmen. Sie hob die Hand und wollte an die Tür klopfen, doch dann merkte sie, wie lächerlich das war. Also holte sie tief Luft, um zu rufen. Aber was sollte sie denn rufen? Wie dunkel es jetzt war! Hätte sie doch bloß eine Laterne mitgenommen!
Aber sie hatte keine Wahl, und außerdem wollte sie nicht, daß der Bär ihre Angst bemerkte. Hatte er nicht gesagt, er würde seine Angst meistern? Genau das mußte sie jetzt auch tun. Sie hob die Schlaufe aus Rentierleder, die den Riegel festhielt, und rüttelte an dem Eis, das die Tür blockierte. Mit einem Krachen sprang die Tür auf. Jetzt mußte sie nur noch mit den Füßen den Schnee an der Türschwelle aus dem Weg räumen, damit sie die Tür weiter aufziehen konnte; Pantalaimon, der als Hermelin wie ein weißer Schatten auf dem weißen Boden vorund zurücklief und vor lauter Angst piepsige Töne ausstieß, war dabei keine große Hilfe.
»Pan, um Gottes willen!« sagte sie. »Sei eine Fledermaus. Geh rein und sieh für mich nach…«
Aber er wollte nicht, und er wollte auch nicht sprechen. Nur ein einziges Mal hatte sie ihn bisher so erlebt, und zwar damals, als sie und Roger in der Krypta von Jordan College die Münzen der Dæmonen in die falschen Schädel gelegt hatten. Pantalaimon hatte sogar noch mehr Angst als sie. Und was Iorek Byrnison betraf, der lag in der Nähe im Schnee und sah ihnen schweigend zu.
»Komm raus!« rief Lyra, so laut sie es wagte. »Komm raus!«
Kein Ton war zu hören. Sie zog die Tür
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