Der Goldene Kompass
etwas weiter auf. Da sprang Pantalaimon als Katze in ihre Arme, trommelte wild mit seinen Pfoten gegen ihre Brust und rief: »Geh weg! Bleib nicht hier! Bitte, Lyra, geh doch endlich! Schnell!«
Während sie versuchte, den zappelnden Pantalaimon festzuhalten, merkte sie, daß Iorek Byrnison sich erhob. Sie drehte sich um und sah eine Gestalt mit einer Laterne den Weg vom Dorf heruntereilen. Als die Gestalt sich ihnen auf Hörweite genähert hatte, hob sie die Laterne, damit sie ihr Gesicht erkennen konnten: Es war ein alter Mann mit einem breiten, runzligen Gesicht und Augen, die fast völlig in den unzähligen Falten verschwanden. Sein Dæmon war ein Polarfuchs.
Er sagte etwas, und Iorek Byrnison übersetzte: »Er behauptet, dies sei nicht das einzige Kind dieser Art. Im Wald hat er noch mehr gesehen. Manchmal sterben sie nach kurzer Zeit, manchmal leben sie weiter. Dieses hier sei zäh, sagt er. Aber für das Kind selbst wäre es besser, wenn es sterben würde.«
»Frage ihn, ob er mir seine Laterne leiht«, sagte Lyra.
Der Bär sagte ein paar Worte, und sofort gab der Mann ihr unter eifrigem Nicken die Laterne. Lyra merkte, daß er vom Dorf heruntergekommen war, um ihr die Lampe zu bringen. Sie dankte ihm, und wieder nickte er und trat dann ein Stück zurück, weg von ihr, der Hütte und dem Bären.
Plötzlich durchzuckte Lyra ein Gedanke: Wenn nun Roger das Kind war? Inständig betete sie, daß er es nicht sein möge. Pantalaimon, der wieder ein Hermelin war, klammerte sich an sie, die kleinen Krallen tief in ihren Anorak gebohrt. Sie hielt die Laterne hoch und machte einen Schritt in den Schuppen. Und dann sah sie, was die Oblations-Behörde tat und worin das Opfer bestand, das die Kinder bringen mußten.
Ein kleiner Junge saß zusammengekauert an dem hölzernen Trockenregal, in dem in Reihen übereinander ausgenommene Fische hingen, steif gefroren wie Bretter. Er preßte ein Stück Fisch an seine Brust, so wie Lyra mit beiden Händen Pantalaimon umklammert hielt, ganz fest an ihr Herz gedrückt. Das Stück getrockneter Fisch war alles, was er besaß, denn er hatte keinen Dæmon mehr! Die Gobbler hatten ihn abgeschnitten! Das also bedeutete Interzision. Der Junge war ein abgeschnittenes Kind.
Der Fechtkampf
Fast hätte Lyra auf dem Absatz kehrtgemacht und wäre weggerannt, oder sie hätte sich übergeben. Ein Mensch ohne Dæmon — das war wie jemand ohne Gesicht oder mit offenem Brustkorb und herausgerissenem Herzen: Etwas so Abartiges und Unheimliches gehörte in die nächtliche Welt der Spukgeschichten, aber nicht in die taghelle Welt der Vernunft.
Lyra klammerte sich an Pantalaimon. Ihr wurde schwindlig und schlecht, und der kalte Schweiß, in den ihr Körper gebadet war, ließ sie in der Kälte der Nacht noch stärker frösteln.
»Ratter«, sagte der Junge. »Habt ihr Ratter gefunden?« Lyra wußte genau, was er meinte.
»Nein«, sagte sie mit einer Stimme, die genauso schwach und ängstlich klang, wie sie sich fühlte. »Wie heißt du?«
»Tony Makarios«, antwortete er. »Wo ist Ratter?« »Ich weiß nicht…«, begann Lyra und schluckte heftig, um d en Brechreiz zu unterdrücken. »Die Gobbler…« Aber sie konnte nicht weitersprechen. Sie mußte den Schuppen verlassen und sich draußen allein in den Schnee setzen. Nur daß sie natürlich nicht allein war, sie war nie allein, denn Pantalaimon war ja immer bei ihr. Von ihm abgeschnitten zu sein wie dieser kleine Junge, der für immer von seinem Ratter getrennt war, war das Grauenhafteste auf der Welt! Sie hörte sich schluchzen, und auch Pantalaimon wimmerte, und beide empfanden heftiges Mitleid und tiefe Trauer für den halben Jungen.
Dann stand sie wieder auf.
»Komm«, rief sie mit zitternder Stimme. »Komm raus, Tony. Wir bringen dich in Sicherheit.«
Man hörte, wie sich im Fischerhaus etwas bewegte, dann erschien der Junge in der Tür, in der Hand noch immer den getrockneten Fisch. Er war zwar warm genug angezogen, aber sein dick wattierter Anorak aus Kohleseide und die Pelzstiefel sahen gebraucht aus und waren ihm zu groß. Im Freien, wo es aufgrund der letzten, blassen Schleier der Aurora und des schneebedeckten Bodens heller war, wirkte er noch verlorener und erbarmungswürdiger als zuvor im Laternenschein an den Fischregalen kauernd.
Der Dörfler, der die Laterne gebracht hatte, war ein paar Schritte zurückgewichen und rief ihnen etwas zu.
»Er sagt, du mußt den Fisch bezahlen«, übersetzte Iorek Byrnison.
Am
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