Der Goldene Kompass
der Rentierkeule, und Lyra, die wieder an die Hexen am nächtlichen Himmel denken mußte, hatte eine kühne Idee, aber sie sagte lieber nichts davon. Statt dessen fragte sie Iorek Byrnison über Svalbard aus und lauschte gespannt, als er ihr von den sich langsam vorwärts schiebenden Gletschern erzählte, von Felsen und Eisschollen, auf denen Hunderte von Walrossen mit ihren großen Hauern lagen, vom Meer, das vor Seehunden wimmelte, von Narwalen, die mit langen weißen Stoßzähnen durch die eisige Wasseroberfläche stachen, von der langen, zerklüfteten Küste und den über tausend Fuß hohen Klippen, auf denen die abscheulichen Klippenalpe hausten, die ab und zu auf Beutesuche zum Wasser herunterstießen, und von Kohlegruben und Feuerminen, in denen Bärenschmiede gewaltige Eisenplatten aus den Felsen hämmerten und zu Rüstungen vernieteten…
»Aber wenn sie dir deine Rüstung weggenommen haben, Iorek, woher hast du denn dann diese?«
»Die habe ich mit eigenen Händen in Nowaja Semlja aus Himmelseisen gemacht. Davor war ich nur ein halber Bär.«
»Also können sich Bären ihre Seele selbst machen…«, sagte Lyra. Es gab so vieles auf der Welt, wovon sie nichts wußte! »Wer ist der König von Svalbard?« fragte sie. »Oder haben Bären keinen König?«
»Er heißt Iofur Raknison.«
Der Name löste in Lyras Kopf ein schwaches Echo aus. Wo hatte sie ihn schon einmal gehört? Jedenfalls weder aus dem Munde eines Bären noch aus dem eines Gypters. Die Stimme, die ihn ausgesprochen hatte, war die eines Wissenschaftlers gewesen, präzise, pedantisch und überheblich; eigentlich konnte es nur eine Stimme aus Jordan College sein. Lyra versuchte, sich zu erinnern. Es lag ihr auf der Zunge!
Und dann fiel es ihr ein: das Ruhezimmer! Die Wissenschaftler hatten Lord Asriel zugehört, und der Palmer-Professor hatte etwas von Iofur Raknison erzählt. Er hatte das Wort Panserbjørne gebraucht, das Lyra damals noch nicht kannte, und sie hatte auch nicht gewußt, daß Iofur Raknison ein Bär war. Aber was hatte er bloß gesagt? Daß der König von Svalbard eitel war und man ihm schmeicheln konnte. Aber da war noch etwas anderes gewesen, wenn sie sich bloß erinnern könnte, aber seitdem war ja so viel geschehen…
»Wenn dein Vater ein Gefangener der Bären von Svalbard ist«, sagte Iorek Byrnison, »hat er keine Chance zu entkommen. Auf Svalbard gibt es kein Holz, um ein Boot zu bauen. Andererseits, wenn er ein Adliger ist, wird er auch gut behandelt. Dann bekommt er ein Haus und einen Diener und genügend Essen und Brennstoff.«
»Kann man die Bären denn überhaupt besiegen, Iorek?«
»Nein.«
»Aber vielleicht überlisten?«
Er hörte auf, am Knochen zu nagen, und sah sie an. Dann sagte er: »Man kann Panzerbären nicht besiegen. Meine Rüstung kennst du ja schon, aber nun schau dir mal meine Waffen an.«
Er ließ das Fleisch fallen und streckte ihr seine Tatzen mit den Innenflächen nach oben entgegen. Die Ballen waren von einer mehrere Zentimeter dicken Hornhaut bedeckt, und jede der messerscharfen Klauen war so lang wie Lyras Hand oder länger. Iorek ließ Lyra staunend mit den Fingern darüberstreichen.
»Ein Schlag reicht aus, um den Schädel eines Seehundes zu zertrümmern«, sagte er. »Oder einem Menschen das Rückgrat zu brechen oder ihm ein Glied auszureißen. Und beißen kann ich auch. Hättest du mich in Trollesund nicht zurückgehalten, hätte ich den Kopf des Mannes wie ein Ei zerquetscht. Soviel zu meiner Kraft, und jetzt zu den Tricks. Du kannst einen Bären nicht hereinlegen. Willst du den Beweis? Nimm einen Stock und fechte mit mir.«
Begierig, es auszuprobieren, brach Lyra einen Zweig von einem dick verschneiten Busch ab, entfernte alle Triebe und ließ ihn probeweise wie einen Degen durch die Luft sausen. Iorek Byrnison setzte sich auf die Hinterbeine und wartete mit in den Schoß gelegten Vorderpfoten. Als Lyra fertig war, trat sie vor ihn, wollte aber nicht zustechen, weil er so friedlich dasaß. Sie fuchtelte also nur mit dem Zweig herum und täuschte Angriffe nach rechts und links vor, ohne Iorek wirklich treffen zu wollen. Er rührte sich nicht. Sie wiederholte ihre Manöver ein paarmal, aber er zuckte nicht einmal zusammen.
Schließlich beschloß sie, ihm tatsächlich einen Stoß zu versetzen, aber nicht fest, sie wollte einfach nur mit dem Stock seinen Bauch anstupsen. Blitzschnell streckte er die Tatze aus und schlug den Stecken zur Seite.
Überrascht versuchte sie es erneut —
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