Der Goldene Kompass
zuerst die Kapuze ein Stück über den Kopf ziehen mußte, bevor sie erneut hinausspähen konnte. Ihre Glieder waren steif, und sie fror, aber es gelang ihr, sich so weit aufzurichten, daß sie sehen konnte, wie der Schlitten zwischen zwei Reihen hoher Masten mit grellen anbarischen Lampen entlangfuhr. Während sie noch um sich sah, fuhren sie durch ein geöffnetes Eisentor am Ende der Lichterallee auf eine große freie Fläche, die wie ein leerer Marktplatz oder ein Sportplatz aussah. Die Fläche war vollkommen eben, glatt und weiß und hatte einen Durchmesser von ungefähr hundert Metern. An ihrem Rand lief ein hoher Drahtzaun.
Am anderen Ende des Platzes hielt der Schlitten vor einer Reihe niedriger Gebäude, auf denen dicker Schnee lag. Lyra hatte den Eindruck, daß die Gebäude durch Tunnel miteinander verbunden waren, die sie als Wülste unter dem Schnee zu erkennen meinte. Daneben stand ein dicker Eisenmast, der ihr bekannt vorkam, obwohl sie sich nicht erinnerte, woher.
Bevor sie noch mehr erkennen konnte, schnitt der Mann im Schlitten die Schnur um ihre Knöchel durch und zerrte sie grob vom Schlitten herunter, während der Fahrer die Hunde anbrüllte, damit sie aufhörten zu bellen. In dem nur wenige Meter entfernten Gebäude öffnete sich eine Tür, eine anbarische Lampe ging an und richtete sich wie ein Suchscheinwerfer auf sie.
Ohne Lyra loszulassen, stieß ihr Fänger sie wie eine Kriegsbeute vorwärts und sagte etwas. Eine Gestalt in einem wattierten Anorak aus Kohleseide antwortete in derselben Sprache. Lyra konnte das Gesicht des Mannes sehen: Er war kein Samojede oder Tatar; er hätte ein Wissenschaftler aus Jordan sein können. Er musterte Lyra, vor allem aber Pantalaimon.
Wieder sagte der Samojede etwas, und der Mann aus Bolvangar fragte Lyra: »Sprichst du Englisch?«
»Ja«, antwortete sie.
»Hat dein Dæmon immer diese Gestalt?«
Mit dieser Frage hatte Lyra am allerwenigsten gerechnet. Sie staunte und rührte sich nicht. Aber Pantalaimon antwortete auf seine Weise, indem er sich in einen Falken verwandelte und von Lyras Schulter auf den Dæmon des Mannes herunterstieß, ein großes Murmeltier, das sogleich mit einer flinken Bewegung nach Pantalaimon schlug und nach ihm spuckte, während er es mit schwungvollen Flügelschlägen umkreiste.
»Ah, ich sehe schon«, sagte der Mann, als Pantalaimon auf Lyras Schulter zurückkehrte, und es klang zufrieden.
Die Samojeden blickten erwartungsvoll, woraufhin der Mann nickte, einen Fäustling auszog und in eine Tasche griff. Er zog einen zugeschnürten Geldbeutel heraus und zählte den Jägern ein Dutzend schwere Münzen in die Hand.
Die beiden Männer zählten das Geld nach, teilten es unter sich und verstauten es sorgfältig. Ohne einen Blick zurückzuwerfen, bestiegen sie ihren Schlitten. Der Fahrer knallte mit der Peitsche und trieb schreiend die Hunde an, und schon rasten sie über die weiße Arena und in die Lichterallee, immer schneller, bis sie schließlich in der Ferne in der Dunkelheit verschwanden.
Der Mann machte die Tür hinter sich wieder auf.
»Komm schnell rein«, sagte er. »Drinnen ist es warm und gemütlich. Bleib nicht draußen in der Kälte stehen. Wie heißt du?«
Er sprach ein Englisch, aus dem Lyra keinen Akzent heraushören konnte, und er klang wie die Leute, die sie bei Mrs. Coulter kennengelernt hatte: klug, gebildet und wichtig.
»Lizzie Brooks«, sagte sie.
»Komm rein. Wir kümmern uns hier um dich, keine Sorge.«
Obwohl sie viel länger draußen gewesen war, fror er mehr als sie und konnte es kaum erwarten, wieder ins Warme zu kommen. Sie beschloß, sich dumm und langsam zu stellen, und schlurfte zögernd über die hohe Schwelle ins Gebäude.
Zwei Türen mit einem breiten Zwischenraum sorgten dafür, daß nicht zuviel Wärme entweichen konnte. Kaum hatte sich die innere Tür hinter ihnen geschlossen, meinte Lyra vor Hitze umzukommen. Sie mußte sofort ihre Pelze aufreißen und die Kapuze zurückschieben.
Sie standen in einem etwa vier Quadratmeter großen Raum. Rechts und links zweigten Gänge ab, vor ihr befand sich eine Art Rezeption, wie man sie in Krankenhäusern sieht. Alles war hell erleuchtet, und überall blitzten glänzendweiße Oberflächen und rostfreier Stahl. Es roch nach Essen, ein vertrauter Geruch nach Speck und Kaffee, vermischt mit einem schwachen Geruch nach Krankenhaus, und von den Wänden ging ein leises, fast unhörbares Summen aus, eins von jenen Geräuschen, an die man sich entweder
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