Der Goldene Kompass
her geschleudert wurde, mußten sie in einem Höllentempo fahren. Anstrengt lauschte sie auf Kampflärm. Sie hörte eine vereinzelte Salve von Schüssen, die sich in der Ferne verlor, und dann nur noch das Knarren des Schlittens und das leise Tappen der Pfoten im Schnee.
»Sie bringen uns bestimmt zu den Gobblern«, flüsterte sie.
Das Wort abgeschnitten fiel ihr ein. Schreckliche Angst packte sie, und Pantalaimon kuschelte sich ganz dicht an sie.
»Ich werde kämpfen«, sagte er.
»Ich auch. Ich bringe sie um.«
»Das tut Iorek auch, wenn er uns findet. Er wird ihnen den Schädel eindrücken.«
»Wie weit ist es bis Bolvangar?«
Pantalaimon wußte es auch nicht, aber sie vermuteten beide, daß es keinen Tag mehr entfernt war. Die Fahrt schien endlos, und Lyra wurde schon von Krämpfen gepeinigt, als das Tempo auf einmal langsamer wurde und ihr jemand die Kapuze vom Kopf riß.
Über sich, im flackernden Schein einer Laterne, erblickte sie ein breites, asiatisches Gesicht unter einer Kapuze aus Marderpelz. Die schwarzen Augen glitzerten zufrieden, besonders als Pantalaimon aus Lyras Anorak schlüpfte und fauchend die weißen Hermelinzähne bleckte. Der Dæmon des Mannes, ein großer, schwerer Marder, knurrte ebenfalls, aber Pantalaimon zuckte nicht zurück.
Der Mann zerrte Lyra hoch und setzte sie an die seitliche Lehne des Schlittens. Doch sie kippte dauernd wieder um, weil ihre Hände immer noch auf dem Rücken gefesselt waren, bis der Mann ihr schließlich die Füße zusammenband und die Handfesseln löste.
Durch das Schneetreiben und den dichten Nebel sah sie, wie kräftig der Mann und auch der Fahrer des Schlittens waren, wie geschickt sie mit dem Schlitten umgingen und wie sehr sie in diesem Land zu Hause waren — im Unterschied zu den Gyptern.
Der Mann begann zu sprechen, aber Lyra verstand natürlich kein Wort. Er probierte es in einer anderen Sprache — mit demselben Ergebnis. Dann versuchte er es mit Englisch.
»Wie du heißen?«
Pantalaimons Fell sträubte sich warnend, und Lyra begriff sofort, was er meinte. Die Männer wußten nicht, wer sie war! Sie hatten sie also nicht deshalb entführt, weil sie Mrs. Coulter kannte; vielleicht arbeiteten sie ja gar nicht für die Gobbler. »Lizzie Brooks«, antwortete sie.
»Lissie Broogs«, wiederholte er. »Wir dich bringen an schönes Ort. Nette Leute.«
»Wer seid ihr?«
»Samojeden. Jäger.«
»Wohin bringt ihr mich?«
»Schönes Ort. Nette Leute. Du haben Panserbjørn?« »Als Schutz.«
»Nix gut! Ha, ha, Bär nix gut! Wir dich gekriegt haben auch so!«
Er lachte dröhnend. Lyra beherrschte sich und schwieg. »Wer sein andere Leute?« fragte der Mann und deutete in die Richtung, aus der sie gekommen waren.
»Händler.«
»Händler?… Was sie handeln mit?«
»Felle, Schnaps. Tabak.«
»Verkaufen Tabak, kaufen Felle?«
»Ja.«
Der Mann sprach mit seinem Begleiter, der kurz etwas erwiderte. Währenddessen raste der Schlitten unaufhaltsam weiter, und Lyra versuchte, sich bequemer hinzusetzen und zu erkennen, wohin sie fuhren. Doch der Schnee fiel in dichten Flocken, und der Himmel war dunkel, und bald wurde ihr zu kalt, um noch länger hinauszuspähen, und sie legte sich wieder hin. Sie und Pantalaimon konnten gegenseitig ihre Gedanken erfühlen und versuchten, ruhig zu bleiben, aber die Vorstellung, daß John Faa tot sein könnte… Und was war mit Farder Coram passiert? Ob Iorek es schaffen würde, die anderen Samojeden zu töten? Und ob sie Lyra je finden würden?
Zum ersten Mal verspürte Lyra so etwas wie Selbstmitleid.
Geraume Zeit später schüttelte der Mann sie an der Schulter und gab ihr einen Streifen getrocknetes Seehundfleisch zum Kauen. Es schmeckte ranzig und war zäh, aber sie hatte Hunger, und außerdem war es nahrhaft. Als sie es zerkaut hatte, ging es ihr ein wenig besser. Langsam schob sie die Hand unter ihre Pelze und vergewisserte sich, daß das Alethiometer noch da war. Dann zog sie vorsichtig die Dose mit dem fliegenden Spion heraus und steckte sie in ihren Pelzstiefel. Pantalaimon kroch als Maus hinterher und drückte die Dose so weit nach unten, wie er konnte, bis zum untersten Ende der Rentiergamasche.
Dann machte Lyra die Augen zu. Die Angst hatte sie angestrengt, und bald fiel sie in unruhigen Schlaf.
Sie erwachte, weil das Geholper plötzlich aufgehört hatte und der Schlitten weich dahinglitt. Als sie die Augen öffnete, sah sie über sich helle Lampen vorbeiziehen, die sie so sehr blendeten, daß sie
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