Der goldene Schwarm - Roman
wendet den Blick ab. Er stöbert in seinen Papieren herum und versucht lauschend nachzuverfolgen, wo genau sich der andere im Raum gerade bewegt. Ritsch-ritsch. Reibt er sich das Kinn? Wischt er sich die Stirn? Rammt er einen eisernen Haken, den er statt seiner rechten Hand trägt, in den Tisch?
Als der Mann wieder spricht, ist seine gedämpfte Stimme fast nur noch ein Flüstern und alarmierend nah. »Na schön, Mr Spork.«
Joe blickt sich um und entdeckt das vom Schleier verdeckte Gesicht in weniger als einem Meter Entfernung. Er zuckt leicht zusammen, und der Kopf des Ruskiniten zieht sich zurück.
»Es tut mir leid, dass ich Sie erschreckt habe. Wenn Sie nichts für mich haben, werde ich jetzt gehen.«
»Nehmen Sie meine Karte mit, und rufen Sie mich an, wenn es noch etwas anderes gibt, was ich für Sie tun kann. Oder falls ich noch andere Stücke haben sollte, die für Sie von Interesse sein könnten.«
»Ich werde darüber nachdenken und wiederkommen.«
Joe zügelt sein Unterbewusstsein, bevor es ihn dazu verleiten kann, zu sagen: »Aus dem Grab?« Der Mann mit dem Schleier über dem Gesicht schlängelt sich aus der Tür und verschwindet auf der Straße.
Billy. Du kriegst jetzt richtig Ärger.
Bevor er loszieht, um Billy zu finden – wo immer der auch steckt – und ihn persönlich anzuschreien, erledigt Joe noch einen Anruf.
Harticles – genauer: die Boyd Harticle Stiftung für Kunsthandwerk und Wissenschaftliche Praxis – ist ein endloser Trödelsaal, hundertfünfzig Jahre alt und älter, eine Aneinanderreihung verschlungener Flure voller Regale und Ausstellungsvitrinen, durchsetzt von Lesezimmern und Sammlungen, in denen alles unzureichend etikettiert und grauenhaft staubig ist, sodass das Betreten des Archivs jedes Mal das Risiko tagelangen Hustenreizes mit sich bringt. Es ist brechend voll mit Krimskrams, der erworben, instand gesetzt und für den Fall eingelagert wurde, dass eines Tages eines der Stücke für eine Restauration oder Rekonstruktion benötigt wird. Es finden sich Teile von Charles Babbages unfertigen Apparaturen und von Brunels Dampfmaschinen hier. Von Robert Hooke entworfene Instrumente stehen dicht an dicht mit Modellen, die nach da Vincis Skizzen angefertigt wurden. Alles hat seine Geschichte, für gewöhnlich mehr als eine. Boyd Harticles hässliches rotes Backsteinhaus mit den unpassenden Türmen auf dem Dach und den neogotischen Bogenfenstern ist ein Ruheplatz für die vernachlässigten Produkte der menschlichen Erforschung und Eroberung der Welt.
Nach dem zweiten Klingeln wird der Hörer abgenommen.
»Sie sprechen mit dem Haus der Kunst«, stellt eine tiefe, recht energische Frauenstimme fest.
»Cecily? Ich bin’s, Joe.«
»Joe? Joe? Welcher Joe? Ich kenne keinen Joe. Das als Joe bekannte Phänomen ist eine von meinem Bewusstsein erschaffene Illusion, um die Diskrepanz zwischen der Anzahl von Scones auszugleichen, die ich kaufe, und der Anzahl von Scones, die ich am Ende auch esse. Seine mutmaßliche Existenz ist auf empirischem Wege widerlegt worden. In jedem Fall, existent oder inexistent, er interessiert sich sowieso nicht mehr für mich. Hat mit irgend so einer Nutte das Weite gesucht, kein Zweifel, und mich meiner Einsamkeit überlassen.«
»Es tut mir leid.«
»Und das sollte es auch. Wie geht es dir, du herzloser Schuft?«
»Mir geht’s gut. Wie sieht’s aus bei Harticles?«
»Groß und zugig, und überall steht alter Kram rum, für den sich niemand die Bohne interessiert. Ich gehör zum Beispiel auch dazu.«
»Ich hab doch gesagt, es tut mir leid.«
»Und du glaubst, einmal reicht, und schon hast du den Kopf aus der Schlinge gezogen, was? Frag mal Foalbury, wie oft der sich für das Fiasko mit dem Eierpunsch entschuldigen musste. Und dann versuch’s noch mal.« Doch Cecilys Stimme ist widerwillig weicher geworden, und einige gebutterte Scones werden sie wieder versöhnen. Harticles Tore – das weiß Joe, und sie weiß es auch – stehen ihm immer offen.
Teils Museum, teils Archiv, teils Club, hat Harticles sowohl baulich als auch gesellschaftlich eine jener verrückten Nischen im Londoner Leben besetzt, in der es für die Außenwelt fast unsichtbar bleibt, für die Eingeweihten aber unverzichtbar ist. Cecily Foalbury ist hier die Bibliothekarin und im Grunde zugleich die Bibliothek. Zugegeben, mit etwas Rückenwind könnte man ein Buch oder ein Exponat auch über die Indexkartei finden. Es ist eine vollkommen respektable Methode, wenn auch veraltet
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