Der goldene Schwarm - Roman
absichtlich.
Andererseits gibt es dort draußen nun diese schöne neue Welt mit all ihren nichtstaatlichen Akteuren. Ein Verrückter würde es vielleicht tun.
Er macht sich nicht die Mühe, Joe Spork als den Schuldigen in Erwägung zu ziehen. Der Junge ist schließlich ein Niemand.
Während vor seinem Fenster die Welt in Flammen steht, wirft Rodney Titwhistle dem roten Telefon auf seinem Schreibtisch einen Blick zu. Zeit, den ersten Anruf zu tätigen. Erst mal Nummer 10 oder das Kabinett. Eigentlich müsste er vorher Details in Erfahrung bringen, aber er kann nicht warten. Er wird ein wenig improvisieren müssen. Er streckt die Hand aus.
Und dann ertönt die Stimme, die er auf der gesamten Welt am wenigsten gern hört.
»Mein lieber Rodney, hallo, hallo! Ich habe mich selbst hereingelassen, ich war mir sicher, dass es Ihnen nichts ausmachen würde, wo wir doch so viele gemeinsame Freunde haben. So viele. Sie erinnern sich noch an mich, ich habe gedroht, Sie zu verklagen, das war furchtbar unhöflich von mir, ich muss mich wirklich entschuldigen. Mein Name ist Mercer Cradle, früher war ich bei der alteingesessenen Kanzlei Noblewhite Cradle, heute bei Edelweiß Feldbett in der Schweiz, eine noch recht junge Organisation, aber wir möchten gern frühzeitig unsere Duftmarken hinterlassen, das ist Teil unserer Firmenkultur, die ich in diesem Moment … ähm … nun, wir müssen wohl sagen: kultiviere, was bedauerlich redundant ist, aber so ist das eben, was soll man machen? Und insbesondere, Rodney, was sollen Sie machen? Nein, bitte, nehmen Sie die Hände vom Telefon, diese Gentlemen hier könnten etwas dagegen haben, sie gehören zu einer Organisation besorgter Bürger, man könnte fast sagen, zu einem informellen Polizeidienst oder finsterer ausgedrückt: Sie sind ein Mob. Oh, und bei diesem Schriftstück, Mr Titwhistle – nun, bei diesen Schriftstücken, hier ist der Plural angemessen –, handelt es sich um Vorladungen, Haftbefehle und alle möglichen anderen unangenehmen Anweisungen, die ich leider gezwungen bin, auf Sie anzuwenden, da Sie unter dem Verdacht der Beihilfe zur Folter und vielen anderen Vergehen stehen, also kooperieren Sie doch bitte in aller Form, sodass wir hier die ganze Nacht zusammensitzen können, wo es warm ist und wo es Sherry gibt, und uns morgen früh um den Papierkram kümmern können, falls wir dann alle noch am Leben sind.
Denn«, fügt Mercer Cradle düster hinzu, »Sie haben uns vielleicht alle zum Tode verurteilt mit Ihrer verdammten selbstgefälligen Scheiße, Sie dämliches Arschloch, bleiben Sie also da sitzen und überlassen Sie alles Weitere anderen, sonst werde ich Ihnen die Eier abschneiden und in ein Einweckglas stecken. Rodney .«
Im zweiten Stock eines recht hübschen Pfarrhauses in Camden Town lauscht Harriet Spork dem Chor der Sirenen vor ihrem Fenster und hat dabei die Stimme ihres toten, geliebten Ehemanns im Ohr. Das Radio auf ihrem Nachttisch gibt bekannt, dass die mysteriösen goldenen Bienen über dem Kanal gesichtet wurden, höchstens eine Stunde von London entfernt – aber ihr Sohn hat all das in der Hand. Er ist doch gut geraten, oder nicht? Trotz allem. Das zeigt sich jetzt.
Zum ersten Mal seit Jahren schläft Harriet tief und fest.
Arvin Cummerbund schaut zu, wie der Stansted Airport hinter ihm verschwindet. An seiner gewaltigen Schulter schlummert die schöne Helena und träumt von Arvin und Argentinien, ihrem Heimatland. Unter ihm, in der Stadt, die er sein gesamtes Leben lang sein Zuhause genannt hat, die er aber nicht mal ansatzweise vermissen wird, tut Joe Spork, was ein Spork tun muss.
Arvin grinst und gestattet es sich, einzuatmen und wieder aus und wieder ein, und bald schon ist die First-Class-Kabine von einem Schnarchen erfüllt, das gut von einem Walross im Winterschlaf stammen könnte, wenn man annimmt, dass Walrösser Winterschlaf halten, was Arvin Cummerbund als Allererster abstreiten würde.
Als der Kapitän nervös mitteilt, dass sie einen leichten Umweg nehmen müssen, um die herannahenden Bienen zu umfliegen, bewegt er sich so gut wie gar nicht in seinem Sitz.
Und während London sich in empörter Freude aalt, bebt in Milton Keynes der Boden. Die schlafende Stadt dreht sich in ihren warmen Decken auf die Seite und fragt sich benommen, ob es irgendwo weit weg ein Erdbeben gegeben hat. Einige späte Trinker merken auf, ziehen ihre Mäntel enger um sich – der Wind ist bitterkalt – und eilen nach Hause.
Bletchley Park erzittert
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