Der goldene Schwarm - Roman
gleichzeitig in ein und derselben Nacht zu verüben, oder noch besser eintausend, muss der größte Teil von ihnen ungeschoren davonkommen. Unter solchen Umständen würde eine gewisse Institution, die für das Überleben des Staates als unabdingbar angesehen wird – wobei nicht Downing Street, das Unterhaus und auch nicht Buckingham Palace gemeint sind –, um Aufmerksamkeit kämpfen müssen, könnte sogar für einige Stunden ganz vernachlässigt werden.
Da Kriminelle aber bekanntlich Egoisten sind und einander nicht über den Weg trauen, wird ein derartiges Szenario von den Ordnungshütern grundsätzlich als ganz unmöglich eingestuft.
Die Nacht ist sehr still und sehr kalt. Auf der Chantry Road, im Herzen von Londons Finanzmarkt, schlafen die hohen, herrschaftlichen Gebäude. Selbst die modernen Stahl- und Glas-Konstruktionen, die durch schiere Größe das Vermächtnis aus Blut, Kunst und Unterwerfung auszustechen versuchen, sind geschlossen und kalt. Lichter brennen in den oberen Stockwerken, wo Börsenhändler und Analysten dem Beruf ein weiteres Mal den Vorzug gegenüber der Familie geben – in dem verzweifelten Bemühen, sich einen Weihnachtsbonus zu verschaffen, den sie nicht ausgeben können, weil ihnen die Zeit dazu fehlen wird. Auf der Straße streicht ein Fuchs auf und ab, zerrt an den prall gefüllten Mülleimern und jault.
Um null Uhr eins fallen die Türen der Ravenscroft Savings & Commodities Bank in einem Lichtblitz, der so machtvoll ist, dass es für einen Moment in den dunklen Großraumbüros der Umgebung taghell wird. Die Explosion fällt so unnötig gewaltig aus, dass auch die schweren Stahlrollläden an der Vorderseite des Gebäudes abgerissen werden, über die Straße fliegen und einen Aston-Martin-Oldtimer zermalmen. Der Fuchs wird mit Wucht in einen Skulpturengarten geschleudert und macht lauthals deutlich, was er von dieser Zumutung hält. Polizisten hasten zum Einsatzort. Terroranschlag oder Raub, das spielt kaum eine Rolle: Der Vorfall stellt eine unverblümte Herausforderung dar, auf die man reagieren muss.
Aber als sie bei der Bank ankommen, raubt niemand sie aus. Sie ist bloß offen.
Woraufhin in der Ridley Street, in Hatton Garden und Shottmore Park die Sirenen losgehen, und dann in der Bond Street, in den Silver Vaults, ebenso auf der Strand, bei den Finanzdienstleistern in Uxbridge und in Christies’ Kaufhaus in Bathnal Green.
Caro Cable knackt einen Safe im British Museum.
Dizzy Spencer hat ihren Fuß vor dem Tower von London auf dem Gaspedal. Denn warum, zur Hölle, ausgerechnet hier kneifen?
In der gesamten Hauptstadt, vom Dartford Creek bis zur Staines Bridge, läuten Sirenen und dröhnen Hupen. Alarmanlagen rufen wehklagend um Hilfe, und die Leitungen in den Telefonzentralen der Polizei laufen heiß. Die zentrale Notfallstation leitet dem Protokoll entsprechend Anrufe ins Dundee Büro um, doch irgendjemand legt zehn Minuten später in Oxfordshire die Leitung lahm, was die ganze Katastrophe wiederum an den Notfallsatelliten weiterleitet. Den wird schon niemand klauen!
Aber Big Douggies Tochter kennt einen Jungen, dessen Bruder Hacker ist, der wiederum jemanden in Schweden kennt, der sich in solchen Sachen auskennt. Der Satellit überträgt jetzt jede Menge dänische Pornografie auf die elektronischen Gerätschaften der erfreuten Matrosen eines russischen Fabrikschiffs, das mitten im Atlantik kreuzt.
In Pimlico wird ein sehr alter Herr erwischt, als er im dritten Stock Unterwäsche aus der Kommode einer Dame stiehlt, die vor langer Zeit als Varietékünstlerin bekannt war. Sie weigert sich, Anzeige zu erstatten, und lädt ihn stattdessen zum Tee ein. Der zuständige Sergeant – überlastet und auf dem Weg zu einem Einbruch in der örtlichen Lloyds-Bankfiliale – nimmt sich dennoch die Zeit, zu Protokoll zu nehmen, dass das Opfer ein Funkeln in den Augen hat.
Die Feuerwehr koppelt ihre Einsatzkräfte von der Telefonzentrale der Polizei ab, und zehn Minuten später tun die medizinischen Rettungsdienste dasselbe. Nichts anderes kommt infrage. In all dem Chaos spielen sich auch die normalen Unglücke weiter ab, und sie können sich nicht ihre Leitungen von all dem verstopfen lassen.
An jedem Tatort findet sich die gleiche weiße Karte:
SIE WURDEN
AUSGERAUBT
VON CRAZY JOE
Quer durch die Hauptstadt verbreiten sich Gerüchte von einer Gestalt mit Hut und Gamaschen, wie der Geist von Humphrey Bogart. Die Londoner aber sind auf ihre charakteristische Weise empört: Der
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