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Der goldene Schwarm - Roman

Der goldene Schwarm - Roman

Titel: Der goldene Schwarm - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Knaus Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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von seinen neogotischen Zinnen bis zu den leeren, zerfallenen Nissenhütten. Die Tore zur Höhle unter dem lang gestreckten Hügel stehen offen. Hölzerne Schwellen biegen sich und stöhnen auf.
    Ein riesiger schwarzer Umriss rollt herauf und hinaus und zieht einen schweren Korpus hinter sich her. Einen Augenblick lang rumpelt er träge voran, dann legt er an Geschwindigkeit zu. Auf den langen, geraden Schienen der Strecke Richtung London wird aus ihm ein gigantischer Schatten, unfassbar riesig und schnell, der Rauch ausspuckt und brüllt.
    Hinter ihm werden die Schienen durch reine Zugkraft sauber gefegt, werden zu leuchtendem Silber.
    Ein Titan zieht vorbei.
    Sarah Ryce ist die Regionalkontrolleurin für die Streckenvergabe des London & Shires Schienenverkehrssystems (Nachtschicht). Sie arbeitet in einem Büro mit Klimaanlage. Sie fährt mit dem Auto zur Arbeit, da es keinen Personenzug gibt, der in der Nähe des einzigen Hauses halten würde, das sie sich leisten kann. Das Auto kann sie sich eigentlich auch nicht leisten.
    Der Mann, der stehen bleibt, um ihr zu helfen, als sie feststellt, dass ihr rechter Vorderreifen aufgeschlitzt wurde, ist überaus freundlich und dafür, dass er schon älter ist, auf zerzauste Weise recht attraktiv. Er ist so nett, dass sie sich kein bisschen bedroht fühlt, als er ihr sagt, dass sie ihn doch Tam nennen solle und dass er für Englands meistgesuchten Verbrecher tätig sei, dem schwerstes Unrecht zugefügt werde. Er möchte, dass sie etwas sehr Einfaches für ihn tut, und will ihr mehr Geld dafür geben, als sie jemals auf einem Haufen gesehen hat, wenn sie ihm dabei hilft, die Welt zu retten. Wahrscheinlich liegt es daran, dass er ihren Reifen flickt und sich dabei in einer Position befindet, die vollkommen geschwächt und verletzlich wirkt, und nicht droht, ihr irgendwas zu tun. Vielleicht liegt es daran, dass er sie ein wenig an ihren älteren Bruder Peter erinnert, der letztes Jahr an Krebs gestorben ist. Oder es liegt an diesem Gefühl, das zurzeit jeder hat, dass irgendetwas von großer Bedeutung in der Luft liegt. Sarah Ryce willigt jedenfalls ein.
    Um ein Uhr nachts drückt sie mehrere Knöpfe, die sie in dieser Reihenfolge noch nie zuvor gedrückt hat, und sieht, wie auf dem Schaltpult die gestoppten Züge aufleuchten, die über den Knotenpunkt von Clapham Eisenpfeiler von Hove nach Carmarthen befördern sollen, und wie im Dunkeln ein helles grünes Licht aufscheint, dessen Route nun, den ganzen Weg bis London Zentrum und darüber hinaus, bis zu den grünen Wiesen von Richmond und Barnes, freiliegt.
    Einige Augenblicke später rast an ihrer Station etwas vorbei, das mit über hundertfünfzig Meilen pro Stunde unterwegs sein muss. Die alten, verrosteten Schienen protestieren, halten es aber aus. Sarah Ryce grinst heimlich: Was immer sie auch getan haben mag, es ist etwas Gewaltiges.
    Grüne Felder voller Kühe und Schafe; gelegentlich leere Kirchen und verlassene Pubs; die dunkel daliegenden Straßen neben der Schienenstrecke; der Zug rauscht an ihnen vorbei, ist im nächsten Augenblick wieder verschwunden, zieht heißen Metallgestank hinter sich her und schwefligen Kohledampf.
    Vorbei an Lagerhäusern und Schulgebäuden, an Restaurants und Tankstellen, weiter und weiter bis nach London. Backsteinhäuser erzittern, Gläser stürzen von Regalen. Autoalarmanlagen schlagen los, Fensterscheiben bekommen Sprünge. Polly Cradles leeres Bett löst sich von seiner Federung und kracht zu Boden.
    In der Dunkelheit dieser Nacht, in der die Regeln nicht mehr gelten, schießt der Ada Lovelace wie ein Pfeil auf Sharrow House zu.
    Ein Titan zieht vorbei.
    Ruskiniten patrouillieren das Gelände von Shem Shem Tsiens Festung. Einige von ihnen sind Maschinen, andere Menschen, und es gibt nur weniges, was sie voneinander unterscheidet. Die Männer haben leere Gesichter, sie sind atmende und wandelnde Fragmente des Opium-Khans mit kalten Augen, die nur noch die Willenskraft eines Hais haben. Sie nehmen Nahrung zu sich, sie kämpfen, sie schlafen – sie dienen. Sie sind Teil von etwas Größerem.
    Und sie hören etwas. Sie können es unter ihren Fußsohlen spüren, in der sich verdichtenden Spannung der Luft. Etwas Großes – nein, Riesiges.
    Auf dem Gelände von Sharrow House versammeln sie sich und warten. Sie haben keine Angst. Ihnen fehlt jedes Gefühl für sich selbst; ihre Identität ist kollektiv. Jeder für sich sind sie unvollständig, sie bewegen sich wie ein Schwarm. Sie sind ein

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