Der Goldkocher
oft ausgemalt, wie es sein würde, mit Anna zusammenzuliegen, und konnte es sich doch nicht vorstellen. Lips horchte, schloss die Augen und sah, wie Anna über den Hof schritt, sich am Brunnen zu den Eimern hinunterbeugte und sich der Stoff über ihren Brüsten spannte; der Duft ihrer Haare kroch ihm in die Nase, wie damals, als sie zusammen bei der Feier zur Königskrönung miteinander spaziert waren und sich geküsst hatten. Inzwischen war er ein Mann geworden. Er würde sie jetzt mit ganzer Kraft fassen und sie nicht wieder loslassen. Sicher war Anna schon längst wieder im Dunkeln die Treppe hinaufgegangen; ja, sie hatte sich etwas aus der Küche geholt, bestimmt.
Da hörte Lips ein Husten. Er erstarrte. Es war doch jemand in der Bibliothek! Aber wer saß denn dort um diese Zeit im Dunkeln!? Oder waren vielleicht die Fenster sorgsam verhangen? Jetzt hustete nochmals jemand. Lips hörte es in seinem Ohr pulsen und horchte angestrengt weiter. Da, wieder! Das unterdrückte Husten eines Mannes! Dann die dumpfe Stimme einer Frau. Nein, er war nicht sicher, bezwang sich und horchte weiter. Einmal meinte er ein Schurren zu hören, als würde ein Stuhl gerückt. Dann wieder war es ruhig. Er spürte, wie sich sein Leib zusammenkrampfte, und musste sich bezwingen, nicht aufzuspringen und hoch in die Bibliothek zu stürmen. Plötzlich hörte er, wie oben eine Tür ganz leise geschlossen wurde. Er stellte das Horchrohr behutsam ab, eilte zur Tür, öffnete sie vorsichtig und tastete sich im Dunkeln ein paar Stufen hoch, sodass er in den Flur und hoch in den Aufgang schauen konnte. Aus der Tür zur Bibliothek drang nirgends ein Lichtschein, und auch im Aufgang war es ganz dunkel. Das Haus lag ganz in Ruhe. Er stand eine Weile und überlegte, was er machen sollte, dann schlich er zurück und baute das Horchrohr auseinander.
***
Als Lips am nächsten Morgen am Gesindetisch saß, bekam er keinen Bissen hinunter. Zerknirscht nippte er vom Dünnbier und hörte dem Gerede der Burschen zu. Lustlos ging er hinunter ins Laboratorium. Als er die Tür öffnete, sah er, wie eine fette Ratte an dem mittleren Tiegel schnupperte, in dem er am Vorabend das Berliner Blau und die Salzsäure vermengt hatte. Er wollte gerade nach einer Zange greifen, um nach der Ratte zu schlagen, da sah er, wie sie noch einige Schritte wegtrippelte. Plötzlich krümmte sie sich und fiel auf die Seite. Sie bäumte sich noch einmal kurz auf, dann streckten sich ganz langsam ihre Vorderpfoten. Er drehte die Ratte mit einem Stock um und stieß sie. Es war kein Leben mehr in ihr. Misstrauisch sah er auf den Tiegel, an dem die Ratte geschnuppert hatte.
Er überlegte einen Augenblick, dann lief er hoch in den Stall und forderte vom Viehknecht ein Kücken ab. Wieder unten im Laboratorium kniete er vor dem Tiegel, hielt seinen Kopf tief und atmete ganz flach und hielt mit ausgestrecktem Arm das Kücken darüber. Ein feiner Geruch nach Bittermandel lag in der Luft. Das Kücken wurde unruhig in seiner Hand, sträubte sich einen Augenblick, dann riss es den Schnabel auf, und die Augen wurden starr. Alles ging rasend schnell. Die Dämpfe mussten eine ungeheure Giftigkeit haben.
Lips lief wieder hoch zum Viehknecht und verlangte noch ein Kücken, aber der wollte kein Weiteres ohne die Zustimmung des Hausknechtes herausgeben, da stieß Lips ihn zur Seite und fing selbst eins ein. Als er wieder die Treppen hinunterging, war zu seiner Überraschung die Tür zum Laboratorium halb geöffnet. Vor den Tiegeln mit der Blauen Säure hockte Kunkel von Löwenstern.
»Zurück!«, schrie Lips. »Sofort zurück!«
»Untersteh dich!«, herrschte Kunkel ihn an. »Einen Herrn so anzuraunzen! Weißt du denn nicht, wer ich bin!?« Er drehte sich wieder zu den Tiegeln herum.
»Nein, nicht!« Lips sprang zu Kunkel und riss ihn zurück, sodass er auf den Hosenboden fiel. »Zurück!«
»Bist du verrückt geworden!«, schrie Kunkel und raffte sich mühsam auf.
»Mit Verlaub, gnädiger Herr Kunkel, die Materie im Tiegel ist sehr giftig«, sagte Lips ganz außer Atem und wies auf die toten Tiere.
»So?!« Kunkel schlug die Hose ab und zupfte den Rock glatt. »Merk dir: Kunkel von Löwenstern, verstanden?!« Er besann sich einen Augenblick. »Wie ich sehe, forschst du aber nicht nur nach Rattengift.« Er blickte sich gründlich um, ging langsam zu den Regalen mit den Materialien und streifte mit dem Zeigefinger die Aufschriften der Gefäße. »Ah, ein gutes Scheidewasser und gereinigter
Weitere Kostenlose Bücher