Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Goldkocher

Der Goldkocher

Titel: Der Goldkocher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roland Adloff
Vom Netzwerk:
»Inzwischen werden die den noch mal … noch mal, ja … werden die den noch mal rangenommen haben. So richtig rangenommen, meine ich.«
    Lips schob den Suppenteller weg. Viele überlebten die viehischen Qualen bei der Tortur nicht. Es stach in ihm, als er daran dachte, wie der Vater auf die Folterbank gezwungen und ihm die Schrauben angelegt wurden, wie der Scharfrichter, wenn der Schmerz nachließ, mit einer Eisenstange auf die Schrauben schlug. Gleichzeitig schämte er sich für die Genugtuung, die er empfand. Sollten sie ihn doch bei der Tortur umbringen! Sie würden den Vater bestimmt nicht wieder loslassen! Und verdient hatte er die Qualen! Es war Gerechtigkeit für das, was er Anna angetan hatte; Gerechtigkeit dafür, dass er Arnold in den Tod getrieben hatte; Gerechtigkeit für Lips' zerborstenen Arm und die Schläge mit der Gürtelschnalle; Gerechtigkeit für all die Qualen und die Angst, die er ausgestanden hatte. Schon wenn der Vater nach ihm gerufen hatte, musste er auf das Schlimmste gefasst sein. Er sah sich neben dem Vater stehen, der mit Lotter-Stoffel und Frieder Karten klopfte. Auf der Bank neben dem Vater lag das Brecheisen. Lips stand mit eingezogenem Kopf da, er konnte seinen Blick nicht von dem Brecheisen lösen und wusste nicht, was kommen würde. Der Vater warf übellaunig die Karten hin; Lips durchfuhr eine Angstwelle, die Knie zitterten, und der Harn wollte losschießen, da schickte ihn der Vater mit einer beiläufigen, erlösenden Geste, Branntwein zu holen. – Immer diese Angst, dass etwas passieren konnte! Die ständige Angst vor dem Vater! Immer war er auf dem Sprung, weil er nicht wusste, wann der Vater zuschlug.
    Der Schnurrjude Levi erzählte inzwischen von etwas anderem. Lips hörte nicht mehr hin und konnte nichts mehr essen. Gleich nach dem Tischgebet – wobei der Hausknecht streng darüber wachte, dass auch alle mit gehöriger Inbrunst dastanden – ging Lips hoch in seine Kammer und legte sich hin. Das Bild des Straßenköters, der in Dippels Laboratorium auf die Marter wartete, kam ihm vor Augen. Er hielt sich die Ohren zu, weil er meinte, den Vater viehisch schreien zu hören. Die Hilfeschreie drangen durch Wände. Lips presste die Hände, so fest er konnte, auf die Ohren, aber das gequälte Schreien hörte nicht auf; es schrillte und echote in seinem Kopf. Er hörte Anna ins Haus rufen: ›Ist da jemand?‹ Dann sah er den Vater, wie er mit dem Brecheisen zuschlug und sich über Anna hermachte, ihr das Kleid zerriss…
    Als später die Tür aufging und der Viehknecht in die Kammer trat, rieb Lips sich das Gesicht, als wäre er aus einem bösen Traum erwacht. Der Viehknecht sah ihn an, als wollte er noch einmal auf Lips' Namensvetter zu sprechen kommen, und Lips drehte sich zur Wand. Vielleicht hatte sich der Vater ja vorher irgendwo Opiumpillen besorgt.

34
    Über die Wintermonate hörte Lips nichts mehr vom Vater. Der Schnurrjude Levi saß noch einige Male am Gesindetisch, aber Lips wollte nicht nach dem Haupträuber Tullian fragen. Das Laboratorium verließ er kaum. Er stellte nochmals Böttgers Versuche nach, wobei er große Mengen an Quecksilber verbrauchte, dann wechselte er die Quantitäten und Zusammensetzungen mit anderen Materien, aber es gelang ihm nicht, das Quecksilber trocken zu kochen. Dieser Weg schien Lips nach wie vor am naheliegendsten: eine Materie zu finden, die das Wasser aus dem Quecksilber saugte. Von den beißenden Dämpfen bekam er hartnäckigen Brechreiz und Reizungen der Augen, und er fertigte sich noch längere Zangen an, um die Tiegel aus der Ferne fassen zu können. Die Auflistungen mit den neuen Versuchsanordnungen stapelten sich bald in den Regalen. Alle Proben brachten jedoch immer nur wertlose Schamottklumpen. Lips sagte sich nach jeder erfolglosen Probe, dass er sich nicht entmutigen lassen durfte, und studierte weiter die alchemistischen Schriften, die Pfarrer Porstmann ihm ins Laboratorium hinunterbrachte. Manchmal erkannte Lips schon nach wenigen Seiten, von welchem alten, längst verstorbenen Alchemisten die späteren selbsternannten Adepten als bloße Kopisten abgeschrieben hatten und ihre Schriften nur durch verworrene Rechthabereien unnötig aufbauschten. Eine der wenigen Ausnahmen waren – wie Lips widerstrebend anerkennen musste – die chymischen Schriften von Kunkel von Löwenstern.
    ***
    Über die Studien und Versuche wurde es Frühling. Einmal stand Lips auf einem Hocker am Fenster. Er sog die frische Frühlingsluft ein und

Weitere Kostenlose Bücher