Der Goldkocher
hinüber zum Stand der Frauen, wo Anna seit ihrer Schändung in der hintersten Reihe saß – nahe dem Kirchenstand der Familie des Scharfrichters. Ihr Gesicht war tief verhangen durch die ausladende Haube, sodass er nicht sehen konnte, ob sie beim Beten zum Apotheker hinüberschielte. Auch später beim Hinausgehen konnte Lips nicht ausmachen, ob die beiden ein heimliches Verständnis miteinander hatten. Als er mit dem Glockenläuten ins gleißende Sommerlicht trat, konnte er Anna nicht mehr sehen. Sie war vermutlich schon vorgelaufen.
Plötzlich räusperte sich jemand hinter ihm.
»Da bist du ja!«, raunte eine Stimme, die Lips sofort erkannte und ihn erstarren ließ. Er spürte den Atem vom Schwarzen Frieder in seinem Nacken. Ihm fröstelte. Er zog die Schultern hoch, blickte wie gelähmt starr geradeaus und sah, wie der Apotheker energisch über den Kirchplatz schritt. Hinter ihm folgte mit etwas Abstand seine Frau.
»Tullian braucht eine Arznei«, raunte Frieder. »Hat 'nen Kodder auf der Brust. Auf sieben Uhr heute Abend im Schwarzen Adler. Frag nach dem Herrn von Schönknecht.«
Frieders Atem löste sich aus seinem Nacken. Lips wartete noch einen Augenblick, bis er sich umdrehte. Frieder war in der Menge der Kirchgänger verschwunden. Der Vater war wieder frei aus Kerkerhaft!
Aus einem Nebeneingang der Nikolai-Kirche trat nun Pfarrer Porstmann, der Lips bemerkte und heranwinkte. Als sie zusammen zur Apotheke gingen, legte der Pfarrer Lips vertrauensvoll den Arm um seine Schulter und fragte ihn, ob etwas auf seiner Seele liege, er wirke wieder so bedrückt. Lips war mit den Gedanken noch bei der Begegnung mit Frieder, der Schreck steckte ihm noch in den Gliedern. Es drängte in ihm, sich freizusprechen, aber er wich aus und fragte, nur um etwas zu fragen, ob das Gott-Erleben mit wirklicher Stimme zu hören wäre oder nur im Kopf schwirrte, als würde man sich etwas ausdenken. Es wäre vielleicht eine einfältige Frage, aber ob denn ein anderer mithören könne, wenn Gott zu einem spreche.
Nein, antwortete der Pfarrer, Gott spräche immer nur zu einem einzelnen Christenmenschen, wie sich beim Jüngsten Gericht ja auch niemand hinter einem anderen verbergen könne. Man müsse beim Gebet aber ganz bei der Sache sein, dann wäre das Wort Gottes deutlich zu hören. Oft gelänge es erst nach längerem Ringen mit den satanischen Anfechtungen, bei den meisten Menschen aber nie. Nur wenige wären wirklich erwählt. Für die, die den Weg zu Gott suchten, es aber alleine nicht schafften, für die gebe es das Freisprechen unter Brüdern und die Priester, die ihnen den Weg zu Gott zeigten. Aber wenn der Glaube einmal gründlich durchbräche, dann könne man mit Gott richtig sprechen. Im Übrigen spreche auch der Satan mit klarer Stimme und fordere die Sünden. Anfangs nur geringe, bis man immer tiefer in den sündigen Morast gerate. Manche Menschen würden dann mit ganzer Macht vom Satan beherrscht, und es wäre eine der schwierigsten Aufgaben eines Priesters, sie wieder aus ihrer satanischen Not zu befreien. Er habe schon die grausamsten Auswüchse in den Menschen gesehen. Manche wären so vom Satan ergriffen, dass sie eher stürben, als dass dieser seine Beute wieder loslassen würde. Ja, es sei ein Kampf auf Leben und Tod.
»Lass uns weiter im Verborgenen an unserer Insel der Erwählten bauen«, sagte Pfarrer Porstmann, bevor sie sich vor dem Tor der Apotheke trennten.
Am Betteltisch saß wieder der Schnurrjude Levi. Vielleicht ließ ihn der Vater auch ausspionieren? Lips beobachtete Levi von der Seite, konnte aber nichts Auffälliges an ihm ausmachen und grübelte dabei, ob er zum Vater gehen sollte. Hatte er denn überhaupt eine Wahl? Wie ein Spinnennetz lag die Welt der Kochemer mit ihren Gefährten, Spitzeln und Helfershelfern über der sichtbaren Welt der Wittischen. Abtrünnige wurden überall aufgespürt und grausam abgestraft – wie Safrans-Georg damals. ›Einmal ein Kochemer, immer ein Kochemer‹, klang es ihm in den Ohren.
Lips fand keine Ruhe und ging am Nachmittag hinunter ins Laboratorium, wo er nervös auf und ab wanderte. Nein, er war doch kein Diebsgesindel, kein Gaunergeschmeiß, wie Arnold über die Bande des Vaters gesprochen hatte. Er wollte nicht saufen, stehlen und rumhuren; er war keiner von ihnen, kein Kochemer. Er war anders als sie. Warum ließ Vater ihn nicht endlich in Ruhe!
Lustlos blätterte er in seinen letzten Aufzeichnungen. Er wollte nachsehen, ob er die Menge Silbersalpeter
Weitere Kostenlose Bücher