Der Goldkocher
wir die los.« Damit lief sie wieder zurück zu ihrem Haus.
»Krüppelfuhre!«, echote es in Lips. »Krüppelfuhre!« Das war der sichere Tod. Niemand würde sie aufnehmen. Sie würden sie von einem Dorf zum nächsten karren, bis sie tot waren.
»Gadegast, du musst die so lange reinnehmen«, sagte ein Mann. »Die erfrieren doch! Das bringt die doch um! Nachher sind wir noch schuld!«
»Die kommen mir nicht ins Haus!«, keifte eine Frau mit der durchdringenden Stimme eines Obstweibes. »Wie die stinken!«
»Wenigstens über Nacht in den Stall! Da ist es warm.«
»Nein!«, keifte wieder die Frau. »Die bringen mir noch 'ne Seuche ans Vieh! Da, die Flecken am Hals! Die hat den Teufelskratz!«
»Liegen lassen können wir die aber auch nicht!«
»Dann nimm du sie doch!«
»Was hab ich denn mit der Marie zu schaffen! Bei euch war sie doch als Magd!«
»Glaub nicht, dass das die Marie ist. Nein, glaub ich nicht!«
»Aber wenn der Pfarrer mitkriegt, dass wir die liegen lassen! Der meldet es der Obrigkeit!«
»Der hat immer gut reden! Außerdem, was gehen uns denn Fremde an! Da kann ja jeder kommen! Nein, das ist auch nicht die Marie!«
»Ich geh jetzt, will nichts damit zu schaffen haben! Was geht mich denn Bettelvolk an! Fress doch selber nur Rüben!«
»Komm, wir gehen auch!«
Es war einen Augenblick ruhig. Lips hörte entfernte Stimmen und sah Stiefel ganz nahe vor seinem Gesicht.
»Was ist mit dem Jungen?«
Lips Hals war zugeschwollen. Er brachte nur ein Röcheln hervor.
»Na, siehst du doch! Nichts ist mit dem!«
»Der hat aber die Augen auf!«
Lips versuchte den Schnee vor seinem Gesicht wegzuschieben, aber jemand fasste seine Hände und faltete sie energisch auf seiner Brust zusammen, als würde er auf dem Totenbett liegen.
»Ist aber nichts mehr mit dem, glaub ich. Ist die Starr-Sucht!«
Jemand drückte Lips die Augen zu. »Siehste!«
»Jetzt hat er die Augen wieder auf.«
»Ins Backhaus mit denen«, sagte jemand. »Das ist noch warm.«
»Und dann? Hier bleiben können die aber nicht. Lasst uns in der Früh eine Krüppelfuhre machen. Nach Woltersdorf, dann hat's sich.«
»Nein, das macht kein Christ nicht. Damit will ich nichts zu schaffen haben!«
»Wirst du wohl, sonst legen wir sie dir vor die Tür! Jetzt fass schon an!«
Lips spürte, wie ihn Hände fassten und wegtrugen, dann wurde ihm taumelig. Als er wieder erwachte, blickte er in die Flammen eines Feuers, das in der Ecke eines Backhauses brannte. Es war stickig vom Rauch, aber die Steine, auf denen er lag, waren behaglich warm. Neben ihm lag die Mutter. Er beugte sich zu ihr, fühlte ihr weißes Gesicht und wusste nicht, ob sie noch atmete. Er musste weg von hier, nur weg! Die Arme waren ihm schwer, und jede Bewegung schmerzte. Erschöpft fiel er zurück und schlief ein.
Irgendwann weckte ihn ein Geräusch. Die Tür wurde geöffnet. Ein Junge krabbelte hinein, brachte einen Teller Wassersuppe und legte einige Scheite Holz nach, dann kroch er wieder hinaus. Lips streckte sich nach dem Teller. Er zitterte so sehr, dass er den Löffel nicht halten konnte, beugte sich mit dem Mund über den Teller und schlürfte die Suppe in kleinen Schlucken gegen die Schmerzen im Hals. Die Mutter musste etwas essen, sagte er sich und dämmerte vor sich hin. Noch ein wenig Schlaf … ja, Kraft schöpfen, dann musste er abhauen.
Irgendwann wachte Lips auf. Er spürte, wie ihn jemand an den Füßen aus dem Backhaus zog. Er wollte zur Seite greifen und suchte Halt, seine Hand griff ins Leere. Als er die Augen aufschlug, brachte er nur ein Stöhnen heraus. Draußen hatte es stark geschneit. Das plötzliche Tageslicht und der Schnee blendeten ihn. Er erkannte die Umrisse von menschlichen Gestalten, die ihn fassten und auf etwas Weiches fallen ließen. Es roch nach Stroh.
Alles ging dann ganz schnell. Lips hörte hektische Stimmen. »Da!«, »Zieh schon!«, »Nicht so viel Stroh!«, »Sonst wärmt es doch nicht!«, »Nachher heißt es noch, wir hätten sie erfrieren lassen!«, »Red nicht rum! Beeil dich!«, »Leise doch!«, »Jetzt kann uns niemand mehr was nachsagen!« Er blickte zur Mutter, die neben ihm lag, und sah, dass ihre Finger schwarz angekohlt waren. Sie musste zu nahe am Feuer gelegen haben. Flinke Männerhände wickelten die Mutter mit Stricken in Stroh und warfen sie auf einen Wagen.
Dann war Lips an der Reihe. Alle Kraft war aus ihm gewichen. Hände rollten ihn auf dem Stroh hin und her, sodass er rundum wie eine Vogelscheuche
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