Der Goldkocher
klein und unwissend bei der erdrückenden Gelehrsamkeit, die hier zusammengetragen worden war. Wie gerne hätte er nach den Büchern gegriffen und auf der Erdkugel erkundet, wo Berlin war!
Hinter ihm drängte der Viehknecht zu einer Bank, die für das Gesinde hingestellt worden war. Lips hatte es so abgepasst, dass er neben Anna sitzen konnte, aber der Viehknecht mit seinem harmlosen Kindergesicht schaffte es, sich zwischen sie zu zwängen. Als sich die Familie des Apothekers eingefunden und Platz genommen hatte, bat dieser seinen Schwager Pfarrer Porstmann aus dem Buch vorzutragen, das dieser ›mit glücklicher Feder‹ selbst geschrieben habe. Es war das Buch, aus dem Lips im Waisenhaus vorgelesen hatte. Die wahre Regimentsverfassung, lautete der Titel.
Mit Ehrfurcht sah er zum Pfarrer auf, der neben dem Kamin stand und daraus vorlas. Der Pfarrer las einige Stellen über die Achtsamkeit des Hausvaters und die Willigkeit des Gesindes. Er schloss mit einer kurzen Andacht über die Erlösung von der Buhlsucht, die die Weiber mit ihrer schamlosen Kleidersucht herausforderten. Alle horchten andächtig und sahen nach unten, als der Pfarrer seinen Blick über sie schweifen ließ. Nur wer Erlösung im Verzicht suche, könne die fleischlichen Anfechtungen hinter sich lassen.
Danach reichte die Frau des Apothekers auf einem Tablett duftenden Honigkuchen. Das Gesinde nahm mit spitzen Fingern. Alle standen mit dem Stück auf der flachen Hand und sahen sich verlegen um, weil keiner den ersten Bissen machen wollte. Schließlich hob Anna ihre Brust, nickte für sich und fing an zu naschen. Alle genossen die Leckerei und keiner wollte unter den gütigen Augen der Zornin schlingen.
Anschließend verteilte der Apotheker kleine Geldgeschenke, wobei jeder vortreten musste. Der Apotheker lobte Lips besonders für seinen Fleiß, was Lips vor den anderen unangenehm war, auch habe er mit niemandem Streit angefangen. Sein Schwager, der Pfarrer Porstmann, habe in seiner prophetischen Weitsicht wieder einmal Recht gehabt, als er Lips im Armenhaus als Knecht auserwählt habe. Pfarrer Porstmann sah Lips gütig an, als ihm der Apotheker drei Groschen in die Hand zählte, die noch ganz klebrig vom Honigkuchen war. Der Apotheker drückte dabei fest, als würden die Groschen dadurch schwerer. Die Münzen waren von mäßigem Kupfer, wie Lips sah, und auch an den Rändern abgeknippert, aber ein Krämer würde sie noch annehmen. Auf Schreibzeug würde er sparen! Auch Anna bekam drei Groschen und machte einen artigen Knicks. Als das Gesinde entlassen wurde und sie hinausgingen, sah Lips Annas neidvollen Blick auf das fein gewirkte Kleid der Zornin. Er drehte sich noch einmal um und blickte sehnsüchtig in die Bibliothek.
***
In den Tagen nach Weihnachten war eine scharfe Nachfrage nach Magenbittern und Abführtees, es mussten sehr viel mehr Klistiere ausgetragen werden, zu Neujahr dann auch die Geschenke für die Ärzte. Lips ging zuerst immer an der Bude des französischen Krämers vorbei und besah das Schreibzeug. Der Krämer fragte schon nicht mehr nach, womit er denn dienen könne, und achtete nur darauf, dass Lips nichts anfasste. Nach den Besorgungen lief Lips dann rasch ins Rathaus und las dort, um sich im Lesen zu üben, die Aushänge an den Schwarzen Brettern. Manchmal waren auch Fahndungsschreiben darunter. Er las alles immer wieder, auch wenn er manche Aushänge schon bald vor seinem inneren Auge erinnern und auswendig hersagen konnte, und er machte sich manchmal einen Spaß daraus, die Worte rückwärts zu lesen. Auch das hatte er sich schnell eingeprägt.
An diesem Tag freute er sich, denn er sah von weitem, dass frische Blätter angeheftet worden waren. Als er näher trat, schreckte er zurück, und es wurde ihm etwas bange, als er las, dass es Fahndungsschreiben aus dem Ausland waren, darunter eine Liste aus dem Kurfürstentum Sachsen:
Jacob Dormitz, genannt nach dem Ort seiner Geburt, 55 Jahre alt, 4 sächsische Fuß hoch und 1-2 Zoll, braun, runzeliges, sommerfleckiges Angesicht, mit langen braun aufgefärbten Haaren und gelbem Bärtchen, hat eine Frau und fünf kleine Kinder, redet Fränkisch, ein Marktdieb und Kofferschneider von hoher Profession.
Lips zuckte zusammen, als ihm sein Name entgegensprang, und hastete über die Zeilen:
Lips Tullian, von seinesgleichen auch ›Kavalier mit dem Brecheisen‹ genannt, wahrer Name unbekannt, 38-45 Jahre alt, 4 sächsische Fuß und 1-2 Zoll groß, kräftige Statur, breit von
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