Der Goldkocher
Schultern, länglichen Angesichts und dunklem Haar, gute Kleidung ganz nach der Mode und galant in der Erscheinung, bisweilen mit einem schmalen Bärtchen auf der Oberlippe, nicht beweibt, meist mit gutem Pferd, verübte Einbrüche mit roher Gewalt, ein gefährlicher Haupträuber und schon mehrfach aus der Kerkerhaft entlaufen.
Lips schluckte und zitterte inwendig. Mit dem Finger auf dem Blatt las er alles Wort für Wort. Der Vater lebte und war frei! Lips hastete noch über die anderen Fahndungsschreiben, aber es war kein Name mehr darunter, den er kannte; auch keine Beschreibung, die auf einen der Räuber aus der Grabich-Schenke passte.
Als ein Stadtdiener den Flur entlangschritt, war schlagartig wieder die Angst da, es müsste ihm doch jeder ansehen, dass er der Sohn des Haupträubers Lips Tullian war, gleich würden sie herbeistürmen und ihn in Hand- und Fußeisen legen. Er musste sich bezwingen, nicht in Panik wegzulaufen. Schnell nahm er den Finger vom Fahndungsschreiben, stellte sich, als würde er etwas anderes lesen. Aus dem Augenwinkel beobachtete er, wie der Stadtdiener an ihm vorüberging und hinter einer Tür verschwand.
Lips sah sich um, er war alleine im Flur. Er überlegte einen Augenblick, dann riss er das Schreiben ab, steckte es unter die Jacke und eilte aus dem Rathaus. Er ging zu der versteckten Stelle an der Spree, wo er morgens die Koteimer leerte, und riss das Blatt entzwei. Die Schnipsel ließ er ins Wasser flattern. Sie tanzten auf den schwarzblauen Wellen, die sich zu Strudeln kräuselten, wollten nicht untergehen und breiteten sich langsam aus. Es war doch nur ein Fahndungsschreiben, sagte er sich, aber es blieb eine Unruhe in ihm. Ja, nichts weiter, nur ein Schreiben. Er war jetzt Lips Arnold.
***
Als er später auf den Hof kam, wurden Säcke mit einem Lastenseil hoch zu einer Luke im Dachboden gezogen. Ein Sack baumelte in der Luft und drehte sich. Schlagartig waren die Erinnerungen wieder da. Er sah Arnold am Fensterkreuz hängen und musste sich bezwingen, nicht aufzuschreien, so wie damals, als sein Schrei alle in der Grabich-Schenke hatte verstummen lassen. Es hämmerte in ihm, er presste den Atem gegen das Bild, blickte starr geradeaus, rannte weiter und rempelte den Viehknecht an, der nicht zur Seite treten wollte.
»Na holla, was ist denn mit dem los?«
Als er in die Gesindestube krachte, saß Böttger alleine am Tisch und las ganz versunken in einem Buch und löffelte nebenbei eine Suppe. Hinter dem Rücken von Böttger lief Lips einige Male wie sinnlos hin und her.
»Halt mal Ruhe!«, herrschte Böttger ihn an. »Wer soll denn da lesen!«
Lips bezwang sich stehen zu bleiben. Er langte am Nagelbrett nach seiner Schürze und rieb, wo keine Flecken waren, bis er sich wieder gefasst hatte. »Ist der Herr Böttger wieder zurück?«, fragte er dann und reckte sich neugierig. In dem Buch konnte er einige alchemistische Zeichen erkennen. Vielleicht war das die unverhoffte Gelegenheit!
»Sieht man doch, oder?« Böttger sah nicht auf. »Bist ja ein ganz helles Köpfchen!«
Lips zog seine Arbeitsschürze über. Seine Augen klebten an dem Buch. »Über das Goldkochen, das Buch?«
Böttger antwortete nicht.
»Ich kann Ihm dabei helfen. Beim Goldkochen, meine ich. Die Glut halten und so.«
»Du? Was verstehst du denn davon?« Böttger sah mit müden Augen auf und stutzte. »Wie siehst du denn aus? Bist ja blass, als wärste gerade vom Galgen gefallen!«
»Gnädiger Herr Böttger«, überging Lips die Bemerkung, »mein Vater war Schnallenmacher. Er hat mir viel beigebracht. Ich kann den Windofen schüren, dass er die höchste Hitze gibt. Ich kann einen Blasebalg stoßen, ohne dass Asche in den Tiegel fällt. Ich kenne mich aus mit Kupfer und Silber, wie man beides mischt. Ich weiß, wie…«
Böttger lachte auf. »Du meinst wohl, wie man beides zusammenpanscht! Er war wohl ein Münzfälscher, der Herr Schnallenmacher, was?«
»Nein, war er nicht!«, sagte Lips trotzig. »Herr Böttger, ich kenne auch die heimlichen Zeichen der Alchemisten und wie…«
»Die heimlichen Zeichen der Alchemisten?« Böttger sah ihn fragend an, dann beugte er sich wieder über das Buch. »Ach was, leck mich, wo ich hübsch bin. Außerdem ist es aus mit dem Laborieren! Der Zorn hat's verboten, sonst schmeißt der mich wirklich noch raus. Mach dich an die Arbeit, sonst heißt es noch, ich hätte dich abgehalten!«
Abends lag Lips lange wach unter dem Bettstroh und musste immer wieder an das
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