Der Gott von Tarot
Erscheinungen war im Detail recht schwierig, etwa wie zum ersten Mal Rollschuhfahren. Man konnte das Grundprinzip beherrschen, verfügte aber nicht über die Koordinationsfähigkeit, es richtig durchzuführen, und konnte schmerzhaft stürzen. Er war sich keineswegs sicher, ob er nun die Spielregeln befolgte, denn dies war eher ein unendlicher Befehl als eine bildliche Darstellung.
Eine Gestalt erschien. Hatte es wirklich funktioniert? Es schien ein König zu sein. Der König sprach. Doch die Worte waren unverständlich. Es war eine fremde Sprache! Er hätte wissen müssen, daß er von den Pappfiguren keine Information erhalten würde! Wieder wurde er getäuscht. Aber …
Aufmerksam hörte Bruder Paul zu. Im Verlauf seiner Ausbildung hatte er Kurse in Französisch und Deutsch belegt und ein gewisses Sprachgefühl entwickelt. Aber das war zehn Jahre her. In Deutsch war er besser gewesen, doch diese Gestalt sah nicht deutsch aus. Französisch? Ja, vielleicht das Frankreich vor sechs Jahrhunderten, der Zeit des frühesten bekannten authentischen Tarotspiels. Das mußte König Karl IV. um 1400 sein, der das berühmte Gringonneur-Tarotspiel protegierte.
Die Gestalt machte eine Handbewegung, und eine Szene entstand. Eine Erscheinung, die eine weitere Erscheinung hervorrief? Nun denn! Diese neue Szene war voller Menschen. Drei Paare gingen fröhlich wie bei einer Parade auf und ab. Die jungen Männer trugen mittelalterliche Kleidung, die jungen Damen eleganten Kopfputz und Schleppenkleider. Über ihnen hatte sich der Wolkenmann in zwei militärische Gestalten mit gespannten Bogen verwandelt. Sie richteten die Pfeile auf die fröhlichen Paare. Was für ein Unheil hatte er nun heraufbeschworen?
Bruder Paul lächelte. Das war kein Hinterhalt oder das Symbol einer gespaltenen Persönlichkeit, sondern Romantik. Die Wolkenmänner waren ausgewachsene Cupidos, die den Menschen Liebespfeile schickten. Aber sein Ziel war es, einen Führer zu finden und nicht die detaillierten Besonderheiten eines bestimmten Tarotspiels zu erfahren. Jedenfalls würde ein Führer, dessen Rat er kaum verstand, weil er in wenig vertrauter Sprache erteilt wurde, nicht ausreichen.
„Tut mir leid“, sagte Bruder Paul. „Du bist vielleicht aus einem Original-Tarotspiel von makelloser Ausführung, aber ich muß weitersuchen. Der nächste bitte!“
Die Szene verschwand mitsamt dem König und wurde durch etwas ersetzt, was Bruder Paul für italienisch hielt, wenn er auch nicht genau sagen konnte, aufgrund welcher Tatsache er so urteilte. Es war ein in den Jahren fortgeschrittener Mann. Er trug ein schenkellanges Cape, das reich bestickt war, dazu einen kronenartigen Kopfputz. Offensichtlich eine Person von Rang.
Der Mann machte eine kleine, förmliche Verbeugung. „Filippo Maria Visconti“, sagte er.
Das war also der berühmte (oder berüchtigte) Herzog von Mailand, über den Bruder Paul gelesen hatte, der das wunderschöne Visconti-Sforza-Tarotspiel in Auftrag gab, in Erinnerung an die Hochzeit seiner Tochter mit dem Sprößling der Sforza. Ein harter, brutaler Mann. Er hatte für die Malereien ein kleines Vermögen ausgegeben, und das Kartenspiel war das schönste aller mittelalterlichen Versionen.
Bruder Paul erwiderte die Verbeugung. „Bruder Paul vom Heiligen Orden der Vision“, stellte er sich vor. „Ich freue mich, Ihre Bekanntschaft zu machen.“ Doch sein Vergnügen wurde durch eine nagende Erinnerung gedämpft: Hatte dieser Herzog nicht Menschenfleisch an seine Hunde verfüttert?
Visconti fuhr mit seiner Darstellung fort – in italienisch. Noch eine Sprachbarriere!
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