Der Gott von Tarot
Der Herzog machte eine Handbewegung, und eine weitere Szene materialisierte sich. In dieser befanden sich nur drei Figuren: das junge Paar und ein geflügelter Cupido auf einem Podest zwischen den beiden – über das der arme Mensch aus seiner Wolke herabsteigen konnte –, aber dem Cupido waren die Augen verbunden, und er hielt einen Pfeil in jeder Hand, den er auf die Leute unter sich schleudern wollte. Liebe ist blindl dachte Bruder Paul.
„Francesco Sforza … Bianca Maria Visconti …“ Diese Namen waren aus dem undeutlichen Kommentar zu erkennen. Das verlobte Paar, das die beiden mächtigen Familien einte. Ein wahrhaft hübsches Bild. Aber der alte Filippo Maria Visconti kam als Führer ebenfalls nicht in Frage.
„Der nächste“, sagte Bruder Paul.
Dieses Mal erschien eine kleine Gestalt: ein Kind. Es war Bruder Paul auf unheimliche Weise vertraut. Kannte er es? Bruder Paul schüttelte den Kopf. Dieses Kind war vielleicht vier oder fünf Jahre alt, höchstens sechs, und sah keinem Kind ähnlich, das Bruder Paul jemals auf der Erde gesehen hatte.
Das Kind sprach französisch, und wenn Bruder Paul auch mehr Worte als zuvor begriff, bedeutete dies doch eine zu große Herausforderung für ihn. Seine Neugier auf dieses Kind ließ ihn jedoch aufmerksam zuhören. War es ein Mädchen oder ein Junge? Weiblich, entschied er.
Sie machte eine Handbewegung, und es entstand eine Szene. „Marseille“, sagte sie deutlich. Und dies kam dem ursprünglichen, verschwommenen Bild am nächsten: ein junger Mann zwischen zwei Frauen mit einem geflügelten Cupido darüber, der den Bogen gespannt hielt und einen Pfeil absenden wollte. Wenn Bruder Paul den Mann nicht bald sicher aus seiner Wolke bekam, könnte er sich provoziert fühlen, den Pfeil auch wirklich abzuschicken!
Aber dieses Bild war eher wie ein Bilderbogen als die beiden vorherigen. Dies war eine Szene, die ein Kind schön finden würde und der fast sämtliche Feinheiten der Kunst fehlten. Doch auf die gleiche Weise wurde auch die Bedeutung klar: Der Mann mußte sich zwischen der hübschen jungen Frau und der häßlichen Alten entscheiden. Oder war die alte Schachtel die Mutter, die großmütig über dem Glück ihres Sohnes oder ihrer Tochter thronte? Ohne Zweifel schilderte das Kind dies, aber Bruder Paul verstand nicht genug. Bedauernd lehnte er auch diesen potentiellen Führer ab. „Ich bin sicher, deine Gesellschaft würde mir gefallen, Kind“, sagte er sanft. „Aber da ich deine Worte nicht verstehe, muß ich mich nach einem anderen Führer umsehen. Der nächste!“
Es erschien eine Dame, die gänzlich anders gekleidet war. Sie schien Ägypterin zu sein und trug einen altmodischen Kopfputz, der durch ein Schmuckstück in Gestalt einer Schlange an Ort und Stelle gehalten wurde, sowie ein knöchellanges Gewand mit schwarzen, quer darüber gelegten Bändern. Sie blickte zur Seite, um das Gesicht im Profil zu zeigen, wie auf ägyptischen Malereien.
„Ich hoffe, du sprichst meine Sprache“, murmelte Bruder Paul. Ägyptisch lag ihm überhaupt nicht!
„Oh ja“, sagte sie und setzte ihn in Erstaunen. „Ich stehe für das Heilige Tarot der Bruderschaft vom Licht.“
Bruder Paul war das Tarot der Lichtbrüder einigermaßen vertraut, doch es unterschied sich in einigen grundsätzlichen Aspekten von dem des Visionsordens. Zum einen waren die hebräischen Buchstaben, die mit dieser Arkane zusammenhingen, anders. Bruder Paul kannte es als Zain, was Schwert bedeutete; das Spiel der Lichtbrüder nannte es Vau, was Nagel bedeutete.
Die Frau machte eine Handbewegung, wobei sich ihr Arm auf tänzerische Weise bewegte, und ihre Karte manifestierte sich. Ein Mann stand zwischen zwei
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