Der Gott von Tarot
Frauen. Alle trugen altägyptische Gewänder. Der Mann hielt die Arme gekreuzt, die Hände ruhten auf seinen Schultern; die Arme der Frauen waren von den Ellenbogen an hochgehoben, und die Hände befanden sich in Schulterhöhe. So berührte jede Frau mit einer Hand die Schulter des Mannes, wenn sie sich auch von ihm abgewandt hielt, während er keine von beiden ansah. Über ihnen spannte eine dämonische Gestalt in einem Sonnenkreis einen verzierten Bogen und hatte einen langen Pfeil aufgelegt.
„Dies ist die Sechste Arkane mit Namen ‚Die zwei Pfade’“, sagte die Sprecherin. „Achte auf die beiden sich teilenden Wege, wie in dem Gedicht bei Robert Frost; die Wahl des Weges ist das wichtigste. Diese Arkane bezieht sich auf den ägyptischen Buchstaben Ur, hebräisch Vau, oder die lateinischen Buchstaben V, U und W. Seine Farbe ist gelb, der Ton E, seine okkulte Wissenschaft der Kabbalismus. Sie drückt ihr Thema auf drei Ebenen aus: In der spirituellen Welt reflektiert es das Wissen um Gut und Böse, in der intellektuellen das Gleichgewicht zwischen Freiheit und Notwendigkeit, in der physischen Welt den Antagonismus der Naturkräfte, die Verbindung zwischen Ursache und Wirkung. Achte darauf, daß die Frau zur Linken bescheiden gekleidet ist, während die Frau zur Rechten verführerisch nacktbusig ist, einen Kranz im Haar trägt und das durchsichtige Gewand die Beine buchstäblich bis zur Taille zeigt. Denke auch daran, Sohn der Erde, daß für den gewöhnlichen Menschen die Verführung der Unmoral eine weitaus größere Faszination birgt als die strenge Schönheit der Tugend.“
Bruder Paul war beeindruckt. „Du hast den Symbolismus wirklich herausgestellt“, meinte er. „Aber die meisten Gelehrten interpretieren diese Karte eher als Liebe denn als Wahl.“
„Venus regiert die Leidenschaften und sozialen Beziehungen“, entgegnete sie ohne Verärgerung. „Sie gibt die Liebe zum Wohlleben, Luxus und Vergnügen. Es ist nicht essentiell böse, aber wenn man diese Linie des geringsten Widerstandes verfolgt, kann es zum Übel führen. Wenn man dabei scheitert, den Verführungen der Schlechten zu widerstehen, gelangt man unter den bösen Einfluß der Zweiten Arkane, der verschleierten Isis …“
„Warte, warte!“ protestierte Bruder Paul. „Ich will mich im Moment nicht mit der Hohepriesterin oder anderen Karten einlassen; ich möchte nur diese Karte hier als Repräsentantin deines Spiels verstehen, damit ich sie mit den entsprechenden Karten der anderen Spiele vergleichen kann. Steht diese Karte für Liebe oder für die Wahl? Ein einfaches Ja oder Nein reicht nicht – ich meine entweder die eine Beschreibung oder die andere.“
Sie blickte ihn vorwurfsvoll an. „Wenn du auf die unendlich komplexen Fragen der Ewigkeit einfache Antworten suchst, dann hat es keinen Zweck, die Bruderschaft vom Licht zu befragen.“
Bruder Paul hatte keine so elegante, aber direkte Zurechtweisung von einer Zauberfigur erwartet. „Tut mir leid“, entschuldigte er sich. „Denn eigentlich bin ich nicht auf der Suche nach einer vollständigen Erklärung der Symbole, sondern nach einem Führer, der mich rasch und zuverlässig zur Wahrheit führen kann. Ich weiß, ich werde das Tarotspiel niemals so eingehend begreifen wie du, aber vielleicht kannst du mir zeigen …“
Sie gab nach. „Vielleicht. Ich will versuchen, deine einfachen Fragen zu beantworten. Dies ist sowohl die Karte der Liebe als auch der Wahl, denn bei den schwierigsten Problemen ist immer auch die Liebe im Spiel. Achte bitte darauf, daß der Mann reglos in dem Winkel steht, den die Verbindung zwischen den beiden Straßen bildet, was im Moment offenbar auch deine
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