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Der Gottbettler: Roman (German Edition)

Der Gottbettler: Roman (German Edition)

Titel: Der Gottbettler: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Marcus Thurner
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dafür, dass sich Menschen aus den entferntesten Regionen aufmachten, um hierherzugelangen und übers Meer zu starren, so lange, bis sie fühlten, dass der richtige Augenblick gekommen war.
    Manchmal meinte Terca, das Verlangen überwunden zu haben und endlich frei zu sein. Doch kaum hatte sie sich mit diesem Gedanken angefreundet, kehrte der Wunsch, in die Wand zu klettern, mit noch mehr Vehemenz zurück.
    Gerüchte sagten, dass die Magie der Wand mit dem Grauen Licht des Gottbettlers in Verbindung stand. Doch das stimmte nicht. Der Gottbettler und seine Horden waren vor etwa zwanzig Jahren erstmals in den zivilisierten Ländern aufgetaucht. Die Spuren in der Wand hingegen deuteten auf Selbstmordwillige aus einer Zeit vor dieser Zeit hin. Sie entstammten einer Periode, da die Länder rings um die Cabrische See noch vereint gewesen waren und die Dynastien der Hohen Könige über Jahrhunderte hinweg den Frieden garantiert hatten.
    Terca beendete ihr karges Mahl, stand auf, streckte ihre Glieder und ignorierte dabei das Knacksen in den Knien sowie den Ellenbogen. Sie fühlte sich so alt, wie sie war. Der Rücken schmerzte, die einstmals so geschmeidigen Finger waren wie Fremdkörper. Auch Nässe und Kälte setzten ihr zu. Am liebsten hätte sie sich alle paar Minuten hingehockt und über die Klippe gepinkelt.
    »Terca?«
    »Was gibt’s, Caramae? Hast du neue Schimpfwörter für mich ersonnen?«
    »Er ist gekommen, Terca.«
    »Wer ist gekommen?« Sie blickte hinaus auf die Cabrische See. »Ich kann nichts sehen.«
    »Weil du blind bist. Weil du den Großen Gleichmacher nicht erblicken kannst. Noch nicht.«
    »Meine Augen sind noch weitaus schärfer als deine. Du irrst dich. Da ist nichts.« Ihr Herz klopfte mit einem Mal wie verrückt.
    »Du bist unendlich dumm, Terca. Du siehst immer nur mit den Augen.«
    »Womit denn sonst?«
    »Du wirst es wissen, wenn es so weit ist.«
    Sie kroch vor bis zur Kante ihres kleinen Lagers und starrte hinab zu Caramae. Er stand da, drei Körperlängen unter ihr, auf seiner winzigen Felsinsel, angekettet und mithilfe einer eisernen Hüftklammer fixiert, deren Endstück fest in die Wand getrieben war. Wind umspielte Caramaes ungepflegte graue Haare, die Arme hielt er weit ausgebreitet, wie einer der vielen Propheten, die derzeit die Steilstädte bevölkerten und das Ende allen Seins verkündeten.
    »Was hast du vor?«, fragte Terca, die mit einem Mal eine seltsame Unruhe spürte. Eine, die die Luft ringsum beeinflusste und eine leichte Trübung des Lichts bewirkte. »Mach ja nichts Unüberlegtes, du hirnloser Idiot!«
    »Ich weiß, was ich tue.« Caramae wandte ihr das Gesicht zu. Er lächelte und zeigte seine sonderbar weißen Zähne. »Es wird alles gut. Ich bin am Ziel angelangt.«
    Magie! Sie perlte aus dem Fels wie Schweiß aus der Haut, erzeugte ein flirrendes Muster aus Dunkelheit und packte Caramae ein. Sein Grinsen wurde noch breiter, noch intensiver. Es war, als hätte der Schmied eben die Antworten auf alle Fragen, die jemals gestellt worden waren, gefunden.
    »Lass ja die Finger von dem Schloss, Mann! Bei der leichtesten Windbö …«
    »Das ist es doch, was wir alle wollen, Terca – Erlösung. Die Freiheit, sich fallen zu lassen und jeglicher Knechtschaft zu entsagen!« Caramae zog die eisernen Gurthälften auseinander und zwängte sich daraus hervor. »Ich habe genug gebüßt. Es ist für mich an der Zeit, nach Hause zu gehen.«
    Er stand nun ganz dicht am Abgrund. Drei Körperlängen von Terca entfernt und doch so weit weg, dass sie ihn unmöglich erreichen konnte, bevor er diesen winzig kleinen Schritt nach vorn tat. »Du irrst dich, Caramae! Du darfst noch nicht gehen. Nicht jetzt! Bitte!«
    »Du tust mir leid, Terca. Du weißt nicht, was du willst, und noch weniger weißt du, was du bist .«
    »Dann sag es mir! Rede mit mir!« Sie verspürte Angst. Sie wollte nicht, dass Caramae den letzten, entscheidenden Schritt tat. Er war ein unsympathisches Arschloch – und dennoch ein Mensch, dem sie sich nahefühlte. Sie, die sie Jahre in der Wand verbracht, ihre Wohnhöhle bloß zum Schlafen aufgesucht hatte, wurde plötzlich von Panik erfasst.
    »Er ist gekommen«, wiederholte Caramae, kaum verständlich. »Der Große Gleichmacher holt mich heim.«
    Er tat diesen letzten Schritt seines Lebens, trat ins Leere, eingehüllt von einer Wolke aus Magie. Für eine Weile wirkte die Zeit wie eingefroren. Caramae blieb in der Luft stehen, mit abgewinkeltem Knie, als wäre sein Fuß

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