Der Gottbettler: Roman (German Edition)
Andernfalls …
Andernfalls.
4. In der Wand und in der Stadt
Die See befand sich exakt hundertneunundsiebzig Fuß unter ihr. Jeder, der in die Steilklippen einstieg, wusste, worauf er sich einließ.
Terca setzte vorsichtig einen Schritt vor den anderen. Links von ihr, ein klein wenig höher, klebte ein verarmter Händler mit dem Signum der Steilstadt Car am Hut in der Wand. Er zitterte heftig, seine Finger nestelten unschlüssig am Stahlverschluss seiner Körperklammer umher.
Nein, er würde nicht springen. Nicht an diesem Tag. Er war noch längst nicht so weit. Vielleicht hatte er sein gesamtes Vermögen oder seinen Harem verloren, vielleicht auch nur sein geliebtes Hündchen. Doch seine Verzweiflung war längst noch nicht groß genug, um ihn in den Selbstmord zu treiben.
Sie hingegen …
Terca fühlte, dass es so weit war. Das Wasser unter ihr lockte. Breite Wogen gischteten gegen den Fels und jagten Spritzfontänen mindestens fünfzig Fuß in die Höhe, viel höher als sonst, als wollte die See sagen, dass dies ihr Tag war.
Sie stieg weiter den schmalen, kaum erkennbaren Pfad in die Höhe, mit einer Bedachtsamkeit, die angesichts ihres Vorhabens lächerlich anmutete. Terca hätte sich genauso gut hier fallen lassen können, einfach so, um den Sturz in die Tiefe mit all ihren Sinnen zu genießen. Doch es widerstrebte ihr, ohne dass sie sich den Grund für dieses Zögern erklären konnte.
»Ein schöner Tag zum Sterben!«, rief ihr der junge Benno die rituellen Worte zu. Er hatte ein Brot aus seinem schmalen Lederranzen genommen und kaute lustlos darauf herum.
»Ein Tag ist wie der andere«, gab Terca die traditionelle Antwort. Sie winkte Benno und tastete sich weiter vor, hin zur Windkante.
Bislang hatte sie sich in gesichertem Gelände bewegt. Hier gab es Klettersteige, eiserne Leitern, Haltestricke, Haltepunkte, Markierungen. Doch nach der Ranzo-Kante, benannt nach jener elfköpfigen Familie, die hier ihre Leben gelassen hatte, begann das freie Gelände.
Terca beugte sich vorsichtig vor. Eine Sturmbö erfasste sie, und sie gab dem Drängen des Winds nach und ließ sich sacht nach hinten drücken. Stemmte sie sich gegen die Bö, würde sie irgendwann straucheln, das Gleichgewicht verlieren und langsam nach vorn stürzen, hinab in die Leere, ohne die Riten des Selbstmords durchgeführt zu haben.
Gab es eine größere Schande?
Terca wartete eine Weile, bis das Pfeifen des Sturms nachließ. Dann wagte sie sich in die Freiwand jenseits der Ranzo-Kante. Ihre Finger ertasteten winzige Erhebungen, während sie sich weiter vorarbeitete. Dies war ein Steg, den sie bereits Dutzende Male gegangen war und der keinerlei Überraschungen mehr bieten sollte. Doch sie wusste, dass bereits manch einer diesem Irrglauben erlegen war. Stein, der heute fest war, mochte morgen unterspült sein und bei der geringsten Belastung wegbrechen. Gestrüpp, das sich hier festklammerte, konnte ausdörren, Gneis aufgrund der heftigen Temperaturunterschiede Risse bekommen. In diesem Niemandsland durfte nichts als sicher hingenommen werden.
Ihr Ziel war nahe. Die Felsnase ihres Lieblingsplatzes war vom Kot der Fischtaucher weiß getüncht. Eine Vielzahl von Nestern der laut kreischenden Raubvögel klebte wenige Meter darüber.
Eine weitere Bö nahte. Terca erkannte es an den sich beugenden Gräsern und Ästen unmittelbar voraus. Sie bewegten sich wie die Wogen des Ozeans unter ihr.
Sie drückte ihren Leib so fest es ging gegen den Stein, tastete an allen Seiten nach Halt und schloss die Augen, um sich vor dem Pollenflug zu schützen, der mitunter aggressive Keimlinge heranwehte.
Der Sturm presste ihr die Luft aus der Lunge. Er war kalt und feucht, er brachte einen Hauch von Salz- und Algengeruch mit sich sowie einen Tröpfchenregen der Gischt, der ihre Kleidung durchnässen und schwer machen würde.
Terca ertrug es mit dem üblichen Gleichmut. Wer in die Wand stieg, wusste, was ihn erwartete. Entweder von früheren Erfahrungen oder weil ihn die zahlreichen Wächter auf die Gefahren hingewiesen hatten.
Sie bereitete sich gedanklich auf das letzte Stück ihres Weges vor. Sobald der Wind nachließ, hatte sie einige ruhige Minuten, die sie nutzen musste, um ihre kleine Plattform zu erreichen. Sie griff in den Kalktopf, den sie auf dem Rücken trug. Zuerst mit der Linken, dann mit der Rechten. Danach las sie die Wand. Es gab drei Stege, um an ihr Ziel zu gelangen. Sie entschied nach Gutdünken und wählte den untersten. Er war der
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