Der Gottbettler: Roman (German Edition)
kürzeste, würde aber auch die meiste Kraft kosten.
Windstille. Stille. Nichts deutete mehr auf die noch vor wenigen Sekunden tobenden Gewalten hin. Die Natur, launisch wie eh und je, gab sich nun friedlich. Terca kletterte eine Kniebreit nach unten, suchte nach Griffpunkten, an denen sie sich festhalten konnte, und nach dem nur wenige Zentimeter dicken Sims, an dem sie mit ihren Füßen Halt fand.
Wann war sie das erste Mal in die Wand gestiegen? Vor drei, vor vier Jahren?
Seitdem wartete sie auf den richtigen Augenblick. Darauf, dass ihr die Welt zuflüsterte, endlich zu springen. Und heute war es so weit. Als sie im Morgengrauen erwacht war, hatte sie gewusst, dass dies ihr großer Tag sein würde.
Noch zwei Armzüge. Dann einmal übergreifen. Mit den Beinen abstoßen, ihr gesamtes Körpergewicht mit den Armen aufnehmen, über die leicht vorkrängende Felsnase, hoch zu ihrem Platz.
Geschafft.
Laut keuchend richtete sich Terca auf, tat einen Schritt zur Wand hin, stützte sich dort ab und rutschte zu Boden. Wie immer hatte sie das Gefühl zu schweben, hoch über allen Dingen, befreit von den Lasten, die sie sonst mit sich trug.
Ein Riss zeigte sich im Fels. Er würde bald herausbrechen, sie womöglich mit sich reißen. Doch das machte nichts. Sie hatte ihr Ziel erreicht, und ihr Tod würde frei von Schande sein.
Terca schloss die Augen und wartete auf das Ende.
Es wollte und wollte nicht kommen. Ihre Enttäuschung wuchs immer mehr, denn sie ahnte, dass sie sich wieder einmal geirrt hatte. Ihr Gefühl hatte sie getrogen. Es war nicht der Tag, auf den sie sich schon seit so langer Zeit vorbereitete.
»Kacke!«, rief sie, und nochmals, lauter: »Kacke!«
»Schaffst du’s wieder mal nicht, alte Furztrommel?«, hörte sie eine Stimme von unten.
»Halt dein Schandmaul, Caramae!« rief sie. »Schau auf dich selbst, und lass mich gefälligst in Ruhe!«
Caramae, ihr ältester Leidensgenosse, blieb tatsächlich stumm. Der von den Saugpocken verunstaltete Mann, der sich im gesetzten Alter von fünfzig Jahren noch immer Tag für Tag in die Wand schleppte, verstand offenbar, dass ihr an diesem Tag nicht nach einer Unterhaltung war. Nicht immer gab er sich derart rücksichtsvoll. Manchmal schrie er, halb wahnsinnig vor Schmerzen, dann wieder, wenn er einigermaßen bei Verstand war und ihm zum Bewusstsein kam, dass er ganz langsam von innen aufgefressen wurde, laberte er von morgens bis abends, schimpfte auf die Wundpfleger, Heiler, Kräuterweiber, Ärzte und auf deren Angehörige. Auf alle, denen es besser ging als ihm, und auf alle, die ihn bemitleideten oder ihm helfen wollten. Niemand wurde von seinen Suaden ausgenommen, schon gar nicht sie, Terca, die nach Meinung des ehemaligen Hufschmieds wegen eines nichtigen Grundes tagtäglich den Weg in die Wand suchte.
Wenn er bloß wüsste …
»Spring!«, rief jemand über ihr, ohne dass sie hätte sagen können, wer da wen anfeuerte. Es spielte keine Rolle. Nichts geschah. Da war kein Körper, der in die Tiefe stürzte, bloß für einen Sekundenbruchteil als Schemen erkennbar, ein Geschöpf, das laut schrie und in diesen Augenblicken, da es sich seines Endes bewusst wurde, seinen Entschluss bitter bereute.
Allesamt bereuten sie es, wie Terca wusste. Das Entsetzen war in die Gesichter der Stürzenden geschrieben, in die Gesichter der Schemen. (War es Zufall, dass sie ausnahmslos in ihre Richtung blickten, oder bildete sie sich das bloß ein?) Diese Verzweiflung im Mienenspiel der Todgeweihten rührte etwas in ihr, das sie sich nicht erklären konnte. Es ängstigte und lockte gleichermaßen. Es machte, dass sie immer wieder hierher zurückkehrte, um darauf zu warten, dass irgendwann einmal sie selbst den Impuls voller Magie verspürte und dann den entscheidenden Schritt tat. Verdient hatte sie den Tod allemal.
»Schläfst du, alte Schabracke?«, rief Caramae zu ihr hoch.
»Was willst du?«
»Reden, wie immer. Was denn sonst?«
»Ich wüsste nicht, was es zu besprechen gäbe.«
Eine Zeitlang herrschte Ruhe. Dann, als Terca schon hoffte, sie müsste sich nicht länger mit dem Schmied beschäftigen, machte er sich erneut bemerkbar: »Weißt du eigentlich, warum ich hierherkomme?«
»Du hast es mir bereits tausendmal erzählt. Du hast deinen Bruder getötet. Weil du ihm die Verantwortung über den Hengst des Stadtkrämers von Poitrea überlassen hattest, weil das Vieh ihn abwarf und zertrampelte.«
»Weil ich zu faul war, die Arbeit selbst zu erledigen«,
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