Der Gottesschrein
hat Jacques de Molay etliche Truhen voller Gold von Limassol, dem Hauptquartier der Templer, nach Paris gebracht – und den Papyrus. Aber dann legte König Philippe seine Pläne zur Vereinigung des Templer- und des Johanniterordens zum größten Kreuzritterorden aller Zeiten auf den Tisch. Für Jacques de Molay war diese Ordensunion undenkbar. Und so entschied er sich gegen eine Veröffentlichung der Schriftrolle. Freitag, der dreizehnte – die Templer werden verhaftet. Der Papyrus wird in den Gewölben des Pariser Tempels entdeckt und nach den Inquisitionsprozessen und dem Exil der Päpste in Avignon schließlich nach Rom gebracht.«
Tayeb nickt bedächtig. »Non nobis, Domine – stammt der Spruch nicht aus einem Psalm?«
Ich nicke. »Aus dem hundertfünfzehnten Psalm: ›Nicht uns, o Herr, nicht uns, sondern deinem Namen gib Ehre wegen deiner Gnade, wegen deiner Treue! Warum sollen die Völker sagen: Wo ist denn ihr Gott? Unser Gott ist in den Himmeln.‹«
»Vielleicht ist dies der Schlüssel zum Code?«, nuschelt Tayeb, der seit einigen Minuten mit dem Schlaf ringt.
»Der heilige Name Gottes?«
»Genau.«
»Der christliche Gott hat keinen Namen. Oder meinen die Templer Jahwe, Elohim oder El? El Shaddai, der Allmächtige? El Olam, der Ewige? El Elyon, der Allerhöchste? Adonai, der Herr? Ha-Shem, der Name Gottes, der nicht ausgesprochen werden darf?«
»Vielleicht ist es aber auch einer der neunundneunzig Namen Allahs«, schlägt Tayeb vor. »Der Prophet Mohammed – die Güte Allahs und sein Friede über ihn! – sagt in einem Hadith: ›Wahrlich, Gott hat neunundneunzig Namen, einen weniger als hundert. Wer sie aufzählt, kommt ins Paradies.‹ Die Namen lauten ar-Rahman, der Erbarmer. Ar-Rahím, der Gnädige. Al-Malik, der König. Al-Quddus, der Heilige. Al-Aziz, der Allmächtige …«
»… achtundneunzig … neunundneunzig … hundert«, zieht Alessandra ihn auf. Sie lächelt, doch ihr Blick verrät mir, dass sie sich Sorgen um ihn macht. »Tayeb, du bist auf dem besten Weg ins Paradies!«
»Es steht dir frei zu konvertieren«, frotzelt er mit einem erschöpften Grinsen, hebt beschwörend beide Hände und verfällt in einen mystischen Singsang, als wolle er sie in hypnotische Trance versetzen und damit willenlos machen: »Wenn du einen Blick ins Paradies werfen willst, o Ungläubige unter den Ungläubigen, dann sprich mir nach: ›Ashadu an la ilaha illa-llah, wa Muhammadan rasulu-llah. Es gibt keinen Gott außer Allah, und Mohammed ist der Gesandte Gottes‹.«
»Wenn du mir sagst, wie ich das dem Papst erklären soll«, neckt sie ihn. »Wo sich doch Fra Giovanni da Capestrano so viel Mühe gibt, mich Häretikerin zum Christentum zu bekehren! Nun mal im Ernst. Was ihr aufgezählt habt, sind die Namen Gottes, die Eigenschaften, die die Menschen Gott zuerkennen, aber nicht der Name Gottes. Und nicht die Lösung dieses Rätsels: ›Nicht uns, o Herr, nicht uns, sondern deinem Namen gib Ehre.‹ Die Frage lautet: Welches ist der Name Gottes? Wenn wir den finden, haben wir den Schlüssel zur verborgenen Botschaft.«
»Der Name Gottes ist unaussprechlich«, gebe ich zu bedenken.
Tayeb nickt. »Der Prophet Mohammed sagt, Gott habe neunundneunzig Namen. Der hundertste ist den Menschen unbekannt.«
»Und wenn nun gerade Ha-Shem die Lösung ist?«, frage ich. »Wegen des Gebots, den Namen Gottes nicht zu missbrauchen, benutzen fromme Juden das Wort Ha-Shem, ›der Name‹, um Gott zu bezeichnen, ohne seinen Namen auszusprechen.«
Alessandra kann ihre Zweifel nicht verhehlen. »Na schön. Wir können es ja mal versuchen. Also, wie viele Buchstaben hat Ha-Shem?«
»Drei. He, Shin und Mem.«
Sie zieht die Baruch-Apokalypse heran und schreibt jeden dritten Buchstaben auf ein Blatt Papier und zeigt es mir. »Ergibt das einen Sinn?«
Ich schüttele den Kopf. »Versuch es mit Atbash. Warte, ich helfe dir.« Mit der Feder zeichne ich eine gerade Linie auf das Papier. Oberhalb der Linie schreibe ich die Buchstaben des aramäischen Alphabets von Alaph bis Taw, darunter in umgekehrter Reihenfolge, sodass das Taw dem Alaph zugeordnet ist.
Um den Text zu entschüsseln, wendet Alessandra den Atbash-Code an, den schon der Prophet Jeremia kannte. Sie ersetzt Alaph durch Taw, Beth durch Shin, Gamal durch Resh und …
… kommt zu keinem Ergebnis.
Mit beiden Händen fahre ich mir über das Gesicht. »Ha-Shem ist nicht die Lösung.«
»Offensichtlich nicht.«
»Versuchen wir es mit dem unaussprechlichen
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