Der Gottesschrein
»Wusstest du, dass sie noch hier ist?«, frage ich ihn auf Tscherkessisch.
»Ja.«
Ich glaub’s nicht!
»Sag mal, Arslan, wem schuldest du eigentlich Loyalität?«, frage ich ungehalten.
»Dir, Yared, und denen, die du liebst«, gibt er frech zurück und krault Davids Nacken. »Jedenfalls nicht Uthman, der Brieftauben zum Sultan nach Al-Kahira schickt, ohne vorher mit dir darüber zu sprechen, und der dich zwingen will zu konvertieren, indem er Alessandra mit dem Tode bedroht.«
Ich atme tief durch und nicke langsam.
»Ich habe sie und Tayeb heute Mittag in die Grabeskirche gebracht. Gebre Christos hat ihnen Asyl gewährt. Einer seiner Mönche kümmert sich um Tayebs Wunden. Ich nehme an, Solomon weiß das schon.«
»Du hättest es mir sagen müssen!«
»Und dann?«, trotzt er mir. »Was hättest du dann getan, Yared?« Völlig unbeeindruckt von meinem Unwillen lässt er sich in die Kissen zurücksinken und ringt lachend mit dem Löwen, der begeistert faucht und die Krallen in seinen Harnisch schlägt. »Na komm, kleiner König David, nun zeig mir mal, wie stark du bist! Autsch! «
Da haben sich zwei Spielkameraden gefunden!
Ich gebe auf.
Dienerinnen aus Solomons Gefolge tragen Schüsseln mit verschiedenen Speisen auf – Injera-Brotfladen mit Huhn-, Lamm-,
Ziegen- oder Rindfleisch in scharfer Sauce mit grünem oder rotem Berberee-Gewürz. Das Fasikamahl beendet das fünfundfünfzigtägige vorösterliche Fasten, das härter und länger ist als der muslimische Ramadan. Es kann sich über Stunden hinziehen.
Der kleine David hat die Speisen gewittert und entwischt Arslan mit einem Sprung. Bevor er sich auf mein Festmahl stürzen kann, fasst Alessandra ihn unter der Brust und hebt ihn auf ihren Schoß, um ihm den Nacken zu kraulen. David legt den Kopf auf ihr Knie, schließt die Augen und genießt leise schnurrend ihre sanft streichelnde Hand.
Seufzend denke ich an die Wonnen unserer Liebesnacht. Wie gern würde ich meinen Kopf in ihren Schoß betten und mich von ihr zärtlich liebkosen lassen.
Als habe sie meine Gedanken erahnt, sieht Alessandra auf und erwidert meinen sehnsüchtigen Blick mit einem rätselhaften Lächeln. Sie ist mir so nah, und doch so unerreichbar fern.
Wie hat sie sich entschieden?
Plötzlich weht Unruhe durch den Bankettsaal.
Zwischen den Würdenträgern, die auf Matten aus geflochtenen Palmwedeln vor den niedrigen Tischen Platz genommen haben, stolpert ein staubbedeckter junger Mann in einem schlichten äthiopischen Wickelgewand auf uns zu. Als Solomon ihn erkennt, springt er auf. »Piero!«
Er schließt den Italiener, der beinahe vor Erschöpfung auf die Knie sinkt, in die Arme und hält ihn fest. »Come sta?«, fragt er besorgt auf Italienisch.
Piero antwortet auf Amharisch.
Solomons Lächeln verfliegt. Er nickt hin und wieder ernst, als der junge Italiener, der offenbar ein guter Freund des Prinzen ist, kurz innehält, um zu verschnaufen. Solomons Hand liegt vertraulich auf seiner Schulter.
Dann atmet der Prinz tief durch und entlässt Piero, der sich umwendet und den Saal verlässt.
Mit versteinertem Gesicht nimmt er auf dem Diwan neben mir Platz.
»Schlechte Nachrichten?«, frage ich.
Solomon spitzt die Lippen und nickt. »Das war mein Freund, der Sizilianer Piero da Messina. Er ist einer meiner Offiziere. Mein Onkel schickt ihn. Ich soll sofort zurückkehren. Sultan Bedlay will Aksum angreifen, die Kathedrale Maryam Tseyon niederbrennen und das Manbar zerstören. Ich werde im Morgengrauen mit Piero zurückreiten.«
»Über die Weihrauchstraße?«
»Das ist der schnellste Weg nach Süden.«
»Wie lange wirst du brauchen, um Aksum zu erreichen?«
»Fünfundzwanzig Tage, vielleicht dreißig. Piero war dreieinhalb Wochen unterwegs. Der Herrscher von Mekka, Sharif Abu’l Qasim, hat ihn gefangen genommen und drei Tage lang eingekerkert, bevor er fliehen konnte.«
»Ich werde dir einen Geleitbrief für die Emire in Medinat an-Nabi und Mekka und den Sultan von Al-Yemen ausstellen. Du wirst unbehelligt zum Bab al-Mandeb, dem Tor der Tränen, gelangen, wo du nach Äthiopien übersetzen kannst.«
»Das ist sehr freundlich von dir.«
»Du bist gar nicht beunruhigt, dass Sultan Bedlay Aksum angreifen will«, stelle ich fest.
Solomon schüttelt den Kopf. »Wir haben Gott auf unserer Seite. Bedlay hat uns den Djihad erklärt, obwohl der Prophet Mohammed das ausdrücklich verboten hat, weil Äthiopien früher ein Zufluchtsort für viele Freunde des Propheten war, die von
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