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Der Gottesschrein

Der Gottesschrein

Titel: Der Gottesschrein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Goldstein
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Inschrift auf meinem rechten Arm lautet: ›Im Namen von Iyasus Christos, dem Sohn Gottes, widersage ich dem Saytan.‹ Auf meinem linken Arm steht: ›Ich diene Maryam, der Mutter des Gottessohnes.‹«
    »Du bist sehr fromm.«
    Er verzieht die Lippen zu einem freudlosen Lächeln und deutet auf die Gebete an seinen Armen. »In Äthiopien tragen Männer, Frauen und Kinder diese Tätowierungen. In Ägypten lassen sich die Kopten Kreuze in die Hände brennen. Mein kaiserlicher Onkel entschied, dass wir Äthiopier, das auserwählte Volk, die Kopten in ihrer Gottesverehrung noch übertreffen müssten. Er befahl, dass sich alle diese Gebete in die Haut einritzen müssten. Trotz schwerer Strafen widersetzen sich viele Gläubige und verweigern standhaft den kaiserlichen Kult. Du nennst es Frömmigkeit? Ich nenne es Vergewaltigung und Machtbesessenheit. Der Kaiser hat mich fesseln lassen, um meinen Willen zu brechen, damit ich mich unterwerfe.«
    Als er meinen überraschten Blick bemerkt, fährt er fort: »Glaub mir, Yared, Intoleranz und Fanatismus sind kein Vorrecht des Islam. Mein Onkel ist ein ebenso großer Gotteskrieger wie dein künftiger Schwiegervater. Beide haben in ihren Reichen eine religiöse Gewaltherrschaft errichtet, einen Gottesstaat, der jedoch nicht das ersehnte messianische Friedensreich ist. Denn wir können nicht in Frieden leben, weil wir uns gegenseitig einen unheiligen Krieg erklärt haben.« Er atmet tief durch. Ich weiß, er meint Sultan Bedlay, der dem Neguse Negest den Djihad erklärt hat. »Den Schlachtruf ›Gott will es so!‹ halte ich für den größten Wahn der Menschheit. Wenn Gott will, dass wir uns gegenseitig töten, ist er nicht Gott.«
    Ich hebe die Augenbrauen. »Und was sagt dein Onkel dazu?«
    »Er tobt, wenn ich in seiner Gegenwart so rede. Er hat mich nach Jerusalem geschickt, damit ich mich besinne.«
    »Und?«
    Er lächelt zynisch. »Die Kreuzigung eines Franziskanermönchs am Karfreitag in der Al-Aqsa, die Hetzpredigten von Imam Yusuf gegen Juden und Christen, die Belagerung der Ramban-Synagoge und der Kampf in der Grabeskirche, der den griechisch-orthodoxen Patriarchen beinahe das Leben gekostet hätte, konnten mich ebenso wenig bekehren wie die Pilger aus Byzanz, Florenz und Rom, die auf der Via Dolorosa muslimische Gläubige verprügelt haben.« Er blickt mir in die Augen. »Das soll Gottes Wille sein?«
    Ich nicke bedächtig.
    Solomon nimmt meine Hand und geleitet mich durch den schattigen Kreuzgang in das große Refektorium von Hagia Sion. Die Wände zwischen den hohen byzantinischen Rundbogenfenstern sind mit farbenprächtigen Ikonen von Iyasus Christos und Maryam geschmückt. Sie verströmen einen herben Duft nach Weihrauch und Ziegenleder.
    Am Ende des Refektoriums stehen erhöht wie Throne zwei Diwane, auf denen wir uns niederlassen. Während für Arslan, der immer noch den jungen Löwen über der Schulter trägt, ein weiteres Ruhelager herbeigetragen wird, huschen die Diener um uns herum, schütteln die Kissen auf und ordnen beflissen die Falten unserer Gewänder. Verzierte Straußeneier werden als Räuchergefäße zwischen unseren Lagern aufgestellt – der Duft von Ambra soll uns erfreuen. Mit Straußenfederfächern wird uns kühle Luft zugefächelt.
    »Alessandra!« Solomon springt auf, um sie zu begrüßen. Einer meiner Mamelucken hat sie soeben in den Saal geführt.
    Mein Herz krampft sich schmerzhaft zusammen, während ich sie verwirrt anstarre. Ich dachte, sie wäre mit Tayeb nach Akko geflohen, um auf einem Schiff nach Byzanz oder Venedig zu entkommen!
    »Wie schön, dass du gekommen bist«, freut sich Solomon, zieht ihre Hände an seine Lippen und küsst sie sehr innig.
    Sie trägt das rote Staatsgewand mit den aufgenähten Sonnen, wie gestern Abend, als wir uns leidenschaftlich geliebt haben. Mit den aufgesteckten Haaren, die ihren Nacken betonen, sieht sie atemberaubend aus. Ihr strahlendes Lächeln, mit dem sie Solomon begrüßt wie einen engen Freund, versetzt mir einen Stich. Dann nickt sie mir zu. »Yared.«
    Arslan schenkt sie einen warmen Blick, der von gegenseitigem Einvernehmen kündet. Was ist zwischen den beiden?
    »Setz dich zu uns, Alessandra!« Solomon deutet auf ein Sitzpolster zu unseren Füßen.
    Während sie sich niederlässt, sehe ich zu Arslan hinüber. Er ringt spielerisch mit dem jungen Löwen, der sich in seine Rüstung verbissen hat, seinen Schwanz reckt und mit seinen viel zu großen Tatzen ein wenig unbeholfen nach ihm schlägt.

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