Der Gottesschrein
Pilgerführer seinen auswendig gelernten Text ab, ohne auch nur ein Mal Luft zu holen.
»Das Höhlenlabyrinth erstreckt sich zweihundertfünfzig Schritte weit unter dem muslimischen Viertel. Bis zur Via Dolorosa«, ergänzt Ioannis. »Vielleicht sogar bis zu den Gängen und Kammern im Tempelberg.«
»Gibt es einen zweiten Ausgang, durch den die Templer entkommen können?«, fragt Yared. Er nimmt die Kinder ernst. Das gefällt den kleinen Rotznasen.
»Wir haben keinen gefunden«, antwortet Karim. Er ist stolz, dass der Emir das Wort an ihn richtet. »Falls es eine Treppe gibt, die vom muslimischen Viertel in die Höhle hinabführt, ist sie zugemauert.«
»Die Templer halten Elija in der Felsnische gefangen, die der Grabeskirche am nächsten ist«, fügt Ioannis an und deutet über seine Schulter in Richtung des Damaskustors und des dahinterliegenden Christenviertels.
Yared nickt entschlossen. »Jungs, ihr geht zur Grotte des Jeremia und wartet dort auf uns.«
Karim begehrt auf: »Aber wir wollen doch Elija befr…«
»Kommt nicht in Frage!«
»Ja, Emir«, schmollt Karim.
Arslan verwuschelt sein Haar und streicht ihm über die Wange. »Ich erzähl euch nachher, wie es war«, ermuntert er die Lausebengel und schiebt sie unerbittlich in Richtung der Grotte des Propheten. »Und jetzt schlagt euch in die Büsche. Ab mit euch! Und keinen Mucks, hört ihr?«
In der Dunkelheit tastet Yared nach meiner Hand und drückt sie. »Bist du bereit?«
Ich nicke beklommen.
»Na, dann los!« Yared gibt seinen Mamelucken einen Befehl auf Tscherkessisch. Die Kriegssklaven ziehen ihre geschwärzten Schwerter und lassen sie locker in die Scheiden zurückgleiten. Dann wendet er sich wieder zu mir um. »Alles ist bereit. Bleib ganz dicht bei mir!«
Mit einer knappen Geste befiehlt er den zwanzig Mamelucken unter Arslans Kommando, ihm zu folgen.
Zwischen den knorrigen Olivenbäumen hindurch huschen wir in Richtung der Höhle des Zedekia. Das zerfurchte Felsgestein ist mit Dornengestrüpp überwuchert, das sich bis zur Stadtmauer emporrankt. Wie eine unüberwindlich steile Felswand ragt sie über uns in den flackernden Nachthimmel auf. Überall zwischen den Disteln liegen herabgefallene Steinquader der Festungsmauer, die seit der Eroberung durch Sultan Salah ad-Din nicht wiederaufgebaut worden ist.
Als wir die Stelle erreicht haben, an der die Olivenbäume keine Deckung mehr bieten, winkt Arslan zwei Mamelucken nach vorn. In geduckter Haltung eilen sie zum Einstieg hinüber und stellen sich mit dem Rücken zum Fels neben den Durchlass, um ihn zu sichern.
Von den Christusrittern gibt es weit und breit keine Spur.
Hat Lançarote seinen Freund gewarnt, nachdem er aus der Zitadelle zurückgekehrt ist? Ist er mit Tristão entkommen – wie vorgestern, als Yared mit seinen Männern das verlassene Kloster am Abhang des Zion stürmte? Und noch eine Frage quält mich: Lebt Elija noch?
In der Ferne dröhnt der Donner des nahenden Gewitters.
Mit einem knappen Handzeichen weist Arslan die Mamelucken an, in die Höhle einzudringen. Ein Mamelucke nach dem anderen lässt sich nach vorn sinken und gleitet auf dem Bauch so leise wie möglich vorwärts. Nur das Knirschen der Rüstungen auf dem losen Schotter durch den niedrigen Eingang in die Kaverne ist zu hören.
Als ich Arslan und Yared schließlich folge, geraten die scharfkantigen Steinsplitter, die sich schmerzhaft in meine Arme bohren, unter mir ins Rutschen. Mit dem Kopf voran rutsche ich über den steilen Abhang in die finstere Höhle und lande unsanft auf einem Skelett mit gebrochenem Genick. Der Tote trägt einen Helm, ein Kettenhemd und einen zerschlissenen weißen Wappenrock mit aufgenähtem rotem Kreuz. Offenbar war er beim Eindringen in dieses verborgene Höhlensystem ums Leben gekommen, als er, vielleicht während der Belagerung der Stadt im Juni 1099, in die Tiefe stürzte.
Yared packt mich am Arm und hilft mir auf. »Alles in Ordnung?«, wispert er und legt seinen Arm um mich. »Hast du dich verletzt?« Obwohl er so leise redet, hallt seine Stimme von den fernen Wänden zurück. Wir sind offenbar in einer großen Höhle.
Ich lehne mich gegen ihn. »Nichts passiert.«
Arslan erteilt Timur und den anderen Kriegssklaven Befehle auf Tscherkessisch.
»Wir können nur eine Kerze anzünden – der Lichtschimmer auf den feuchten Felswänden kann uns leicht verraten«, sagt Timur. Dann höre ich, wie Zunder entfacht wird, und plötzlich erhellt eine kleine Flamme die Finsternis.
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