Der Gottesschrein
zweiundzwanzig Jahren kehrte König Salomos Sohn an den Hof seines Vaters in Jerusalem zurück, wo er mit allen Ehren als Prinz von Israel empfangen wurde.« Er blättert durch das Buch auf seinen Knien, schlägt ein Kapitel in der Mitte des Folianten auf und zeigt uns die kostbar illuminierte Seite.
Das farbenfrohe Bild zeigt einen jungen Prinzen mit dunkler Hautfarbe und großen, freundlich blickenden Kulleraugen, der, umgeben von seinem Gefolge, auf einem prächtig aufgezäumten Pferd in Richtung Jerusalem reitet. In der Hand hält Menelik einen Ring oder ein Siegel – den berühmten Ring des Salomo? Die winzige Figur auf den Zinnen von Jerusalem soll vermutlich König Salomo darstellen, der voller Sehnsucht seinen Sohn erwartet. Und neben ihm: der Tempel. Eine herrliche Miniatur, die ich gern in aller Ruhe betrachten würde!
»Obwohl die Legende sehr alt ist, wurde das Kebra Negest jedoch erst vor rund hundertfünfzig Jahren in Geez niedergeschrieben.« Gebre Christos berichtet kurz, wie Yeshaq, einer seiner Amtsvorgänger als Nebura-Ed von Aksum, die Chronik aus alten Überlieferungen zusammengestellt hat – aus kanonischen und apokryphen Erzählungen aus dem Alten und dem Neuen Testament, angereichert mit äthiopischen, hebräischen, griechischen, koptischen, syrischen und arabischen Texten.
»Ist das Kebra Negest wahr?«, fragt Yared.
»Ist die Bibel wahr? Der Koran? Die Evangelien? Ja, ich glaube, dass das Kebra Negest wahr ist. Ich weiß es zwar nicht, aber ich glaube es. So wie ich glaube, dass Menelik nach Jerusalem gekommen ist, um seinen Vater Salomo zu besuchen.«
»Was geschah, als Menelik in Jerusalem eintraf?«
Gebre Christos blättert um und zeigt uns die nächste Miniatur. Im Palast kniet Menelik vor Salomo, der im Königsornat auf dem Thron sitzt und ihm segnend die Hand auflegt. Durch ein offenes Fenster ist der Tempel zu erkennen, dessen leuchtend weiße Wände mit goldenen Cherubim geschmückt sind. »König Salomo erkannte Menelik als seinen Sohn an, nachdem der ihm den Ring zeigte, den er Makeda zum Abschied gegeben hatte.«
»Den Ring des Salomo«, sage ich beinahe ehrfürchtig.
»So ist es. Salomo war so angetan von seinem Sohn, dass er ihn bat, in Jerusalem zu bleiben. Menelik antwortete jedoch, er sei nur gekommen, um wie seine Mutter die berühmte Weisheit seines Vaters kennenzulernen. Salomo habe bereits einen Sohn und Erben, Rehabeam.«
Gebre Christos blättert um, stellt den schweren Folianten auf seine Knie und lehnt ihn gegen seine Brust, sodass wir die geöffnete Seite genau betrachten können.
Die besonders aufwendig gemalte Miniatur zeigt Menelik im Allerheiligsten unter den ausgebreiteten Schwingen der Cherubim. Neben ihm stehen König Salomo, in dessen großen Augen ich Ergriffenheit und Stolz auf seinen Sohn erkenne, und der Hohepriester Zadok, der ein Gefäß mit Salböl in der erhobenen Hand hält. Der Gottesschrein, der unverhüllt gezeigt wird, hat die Farbe von Akazienholz.
Wie seltsam! Die goldenen Cherubim, zwischen denen die Macht Gottes erschien, fehlen auf dem Deckel der Lade.
»Der Hohepriester salbte den jungen Prinzen zum König von Äthiopien. Daraufhin nahm Menelik den Thronnamen David an. Sie brachten den jungen Mann, König Salomos Sohn, ins Allerheiligste des Tempels, wo er mit dem heiligen Öl gesalbt wurde. ›Dein Reich Äthiopien erstreckt sich vom Nil nach Westen. Der Gott Israels wird dich führen, und die Lade des Gottesgesetzes wird dich beschützen. Alle deine Feinde werden durch dich vernichtet werden. Du wirst über viele Nationen richten, doch keine wird über dich herrschen.‹ Dann segnete ihn sein Vater, König Salomo. Als Menelik Jerusalem schließlich verlassen wollte, rief Salomo die Ältesten des Reiches zusammen und bat sie, ihm ihre erstgeborenen Söhne zu schicken. Sie sollten Menelik nach Äthiopien begleiten und ihm helfen, das Reich zu regieren. Ein Engel befahl Azaryas, dem Sohn des Hohepriesters Zadok, die Lade von Zion mitzunehmen.«
Sein Finger gleitet an den Zeilen entlang. Dann hält er inne und zitiert:
»›Der Engel des Herrn erschien Azaryas, erhob sich über ihm wie eine Feuersäule, erfüllte das Haus mit seinem Licht und sagte zu Azaryas: ›Ich werde das Portal des Tempels für dich öffnen. Nimm die Bundeslade mit dem Gesetz Gottes mit nach Äthiopien. Ich werde dich leiten, während du sie trägst.‹ Und Azaryas ging zum Haus Gottes, wo er die Lade mit dem Gottesgesetz fand. Er trug sie fort, während
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