Der Gottesschrein
Offenbar erzählt er ihm gerade, wie einige Jahre nach dem Tod des Kalifen Harun ar-Rashid die Kuppel während eines Erdbebens einstürzte. Als die Muslime in die Stadt zurückkehrten, stellten sie entsetzt fest, dass der Patriarch während ihrer Abwesenheit die Kuppel wiederaufgebaut hatte – fast so groß wie die des Felsendoms. Ein klarer Verstoß gegen das Gebot der Dhimma, wonach Kirchen kleiner und niedriger sein müssen als Moscheen. Der gerissene Patriarch entging der peinigenden Prügelstrafe, indem er die Muslime aufforderte, zu beweisen, dass die eingestürzte Kuppel kleiner gewesen sei als die nach dem Beben errichtete.
Das Gesicht des Imams ist so verkniffen wie das seines Amtsvorgängers, der beim Anblick der Kuppel mit den Zähnen knirschte. Als Yusuf Abu Talib mich mit Alessandra und Gebre Christos die Kirche verlassen sieht, verbeugt er sich steif. Wieso kann er mir nicht in die Augen sehen?
Die ernste Miene des Patriarchen, der mit seinem Gefolge von Priestern und Mönchen neben dem Portal wartet, kann ich nicht deuten. Offenbar weiß er nicht, was er von der überstürzten Liebesheirat halten soll, die Alessandra ihn zu segnen bat. Während ich mit ihr zu Uthman hinübergehe, bleibt Gebre Christos neben Joachim stehen. Die beiden tuscheln miteinander. Der Patriarch nickt Alessandra unmerklich zu.
Was hat sie mit Gebre Christos besprochen, als mir Fra Girolamo da Salerno das Grabmal Jesu Christi zeigte? Was hat sie vor?
Uthman erwartet mich. Er ist verärgert. »Sag mal, Yared, was wolltest du denn in der Grabeskirche?«
»Ich habe Issas Grab besucht. War er nicht der letzte Prophet vor Mohammed, dem ›Siegel der Propheten‹?«
»Das war er. Allahs Friede über ihn!«, brummt Uthman unwillig. »Taqabbal Allah – möge Allah dein Gebet annehmen!«
Arslan senkt den Kopf, um sein freches Grinsen vor Uthman zu verbergen.
Die Pferde werden hergeführt. Während ich mich in den Sattel meines Hengstes schwinge und die Zügel ergreife, bleibt Alessandra unschlüssig stehen und blickt sich um.
Uthman reicht ihr galant den Arm und führt sie zu einer schwarzen Araberstute. »Meine geliebte ›Schwägerin‹, die Gemahlin des Dawadars von Ägypten reitet nicht auf einem Esel. Der Sultan wird dir als Dhimmi dieselben Sonderrechte zuerkennen wie deinem Gemahl.«
Sie verneigt sich vor ihm. »Ich danke dir, geliebter ›Schwager‹.« Bevor er ihr formvollendet in den Sattel helfen kann, rafft sie ihr Gewand und schwingt sich auf die Stute.
Welch ein Stolz, welch ein Selbstbewusstsein!, denke ich im Stillen, während ich beobachte, wie sie sich aufrichtet, die Schultern strafft und die Zügel ergreift.
Uthman wendet sich abrupt ab und geht zu seinem Pferd.
Der Muaddin stimmt den ersten Gebetsruf an, als wir die Treppe zum Tempelberg emporsteigen. Bevor wir durch das Tor des Propheten den Haram ash-Sharif betreten, wirft Alessandra, die neben mir geht, einen Blick auf die Ruinen des römischen Aquädukts. Nur wenige Schritte entfernt mündet es nördlich der Klagemauer ins Labyrinth der Zisternen unterhalb des Tempelplatzes.
Wohin führt die Schatzkarte der Templer? Was liegt in dem Gang begraben, in dem sie das Templerschwert gefunden hat?
Einen Fiorino für ihre Gedanken!
Sie hat meinen Blick bemerkt. »Du bist blass«, wispert sie. »Wie fühlst du dich?«
»Als würde mir bei lebendigem Leib das Herz herausgerissen.«
Tröstend nimmt sie meine Hand und hält sie fest, bis wir das Tor des Propheten durchschreiten.
Auf dem Platz vor der Al-Aqsa versammeln sich die Gläubigen zum Mittagsgebet. Sie hocken im Schatten der Eukalyptusbäume und auf den Stufen zum Felsendom und warten darauf, dass die Tore der Al-Aqsa geöffnet werden.
Imam Yusuf geleitet mich zum Brunnen des Kelches, wo ich mich mit Uthman und Arslan, den Zeugen meiner Unterwerfung, rituell reinige. Aus den Augenwinkeln beobachte ich, dass sich Alessandra am Brunnen vor dem Palast der Templer Gesicht und Hände wäscht – und dabei einen aufmerksamen Blick hinab in die Zisterne wirft. Dann schlendert sie hinüber zum Patriarchen, der mit seinem Gefolge während der Zeremonie und dem nachfolgenden Gebet vor der Moschee warten wird. Sie tuschelt mit ihm. Er presst die Lippen aufeinander und nickt langsam.
Als ich mich vom Sitz am Brunnenrand erhebe und Uthman und Arslan zur Al-Aqsa folge, fühle ich, wie sich die Blicke der Muslime wie Dolche in meinen Rücken bohren.
Imam Yusuf öffnet mir das Portal, damit ich den
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