Der Gottesschrein
ihre Enttäuschung, ihre Eifersucht und ihren Zorn kann ich mir gut vorstellen. Es wäre ja nicht unser erster Streit. Falls Uthman angedeutet hat, dass ich Alessandra meine Villa bei den Pyramiden schenken könnte, wird sie vermutlich gerade den Palast verwüsten, die Vasen zertrümmern, die Teppiche aus Isfahan und Täbriz zerschneiden und meine Bücher zerfetzen. Es sei denn, sie entscheidet sich, zuerst die Ehrengewänder zu verbrennen, die ihr Vater mir geschenkt hat, meine Lieblingspferde in die Wüste zu treiben, die Goldfische im Lotusteich zu massakrieren und meine Felukka im Nil zu versenken.
»Ich lasse dich jetzt allein. Geh zu Bett, Yared, und zieh dir die Decke über den Kopf.«
Ich lache trocken. »Mach ich.«
»Schlaf gut.«
»Du auch.«
Leise betrete ich Alessandras Schlafzimmer und schließe die Tür hinter mir.
Sie liegt auf der Seite und hat den Arm um Elija gelegt. Offenbar ist sie eingeschlafen, nachdem der Junge endlich zur Ruhe gekommen ist. Ein leises Lächeln liegt auf ihren Lippen.
Ich setze mich auf den Rand des Bettes, beuge mich über sie und küsse sie zart auf die leicht geöffneten Lippen. Sie lächelt, doch sie wacht nicht auf.
Dann streiche ich Elija durch das lockige Haar, das nach seinem Bad im Hamam noch feucht ist und schwach nach Sandelholz duftet. Er nuckelt am Daumen und kuschelt sich in Alessandras Arme. Seine Wangen sind tränennass.
Mein Herz krampft sich zusammen.
Yona wäre jetzt sechzehn. Ein junger Mann. Eigensinnig und stolz wie sein Vater Muhammad, der unsere Freundschaft verraten hat. Ich habe Yona geliebt, obwohl er nicht mein Sohn war. Ich habe ihn geliebt, weil er mir so viel Freude geschenkt hat, so viel Hoffnung, so viel Glück. Ich kann keine eigenen Kinder haben. Und das stimmt mich traurig.
Elija bewegt sich und öffnet verschlafen die Augen.
Ich habe den niedlichen Bengel in mein Herz geschlossen. Zärtlich streiche ich ihm eine Locke aus der Stirn, und er schmiegt das Gesicht in meine Hand. Kullertränen rinnen ihm über die Wangen und tropfen auf das Kissen.
»Tut’s noch weh?«, flüstere ich.
Er schüttelt tapfer den Kopf, obwohl er gewiss noch Schmerzen hat.
»Warum weinst du, Elija?«
Ein leises Schluchzen.
»Bist du traurig?«
»Ein bisschen.«
»Wegen Lançarote?«
Elija nickt und liegt eine Weile still. »Ich bin so froh, dass ich Alessandra habe«, gesteht er schließlich.
Ich wische ihm die Tränen aus dem Gesicht. »Ich auch.«
»Liebst du sie?«
»Und wie.«
»Ich hab sie auch sehr lieb. Glaubst du, sie nimmt mich mit, wenn sie nach Rom zurückkehrt?«
Zärtlich tippe ich mit dem Finger auf seine Stupsnase – Yona hat das immer sehr gemocht. »Schlaf weiter, Krümelchen. Es ist schon spät.«
Während er nickt, werden ihm die Lider schwer. Dann ist er wieder eingeschlafen.
Langsam stehe ich auf und blicke versonnen auf Alessandra und Elija. Das lang ersehnte Gefühl von Frieden und Glückseligkeit durchströmt mich und berührt mein Herz. Von einem solchen Augenblick voller Geborgenheit und Liebe habe ich jahrelang geträumt. Ich lasse die Djellabiya zu Boden fallen, gleite unter die Decke, schmiege mich eng an Alessandra und Elija und lege meinen Arm schützend um sie.
· Alessandra ·
Kapitel 54
In der Grabeskirche
3. Miyazya 6945, 19. Dhu’l Hijja 848, 22. Nisan 5205
Ostermontag, 29. März 1445
Kurz nach neun Uhr morgens
Der letzte Glockenschlag verhallt mit tiefem Dröhnen, als uns Tesfa Iyasus am Portal der Grabeskirche empfängt. Der ehrwürdige Abuna sei noch in Hagia Sion, um Prinz Solomon zu verabschieden, der heute nach Aksum aufbrechen wolle. Gebre Christos werde jedoch in Kürze zurückerwartet.
Er führt uns auf die Dachterrasse des Franziskanerklosters und über die steile Treppe in den Garten des äthiopischen Konvents, wo Tayeb in einer Kammer das Bett hütet. An der Wand neben seinem Lager lehnt die aufgerollte Baruch-Apokalypse.
Ich bemühe mich, mir mein Erschrecken über Tayebs Zustand nicht anmerken zu lassen. Yared, der ihn seit gestern Morgen nicht gesehen hat, wirkt bestürzt. Ich setze mich auf den Rand des Bettes und küsse Tayeb zärtlich. Er glüht im Fieber.
»Ich war besorgt, als du gestern Abend nicht zurückgekehrt bist. Ich fürchtete schon, Uthman hätte dich in seiner Gewalt und wolle dich hinrichten lassen«, gesteht Tayeb leise. Seine Stimme klingt gepresst. »Was ist mit Elija?«
»Yared und seine Mamelucken haben ihn letzte Nacht befreit. Er ist in der Zitadelle.
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