Der Gottesschrein
Gottesschrein wurde an den vier großen Festen aus seiner Kirche geholt und dem Volk gezeigt: an Genna, dem Tag der Geburt von Iyasus Christos, an Timkat, dem Fest seiner Taufe, an Fasika, der Feier seiner Auferstehung, und an Maskal, dem Fest des Heiligen Kreuzes.
Vermutlich handelt es sich bei der Kirche um Beta Giyorgis, die Basilika des heiligen Georg, die in der Form eines monolithischen Kreuzes aus dem Fels gehauen wurde. Das flache, kreuzförmige Dach ist mit einem steinernen Relief geschmückt, das ein wenig an das Kreuz des Christusordens erinnert. Die monumentale Kirche liegt in einem tiefen Felsschacht verborgen, der für Prozessionen an Timkat oder Fasika hervorragend geeignet ist. Ein Labyrinth aus gewundenen Gängen, die in den roten Fels geschlagen wurden, umgibt Beta Giyorgis.«
»Wie beschreibt Abu Salih die Lade?«, frage ich gespannt.
»Es ist Jahre her, dass ich das Buch gelesen habe. Doch ich erinnere mich noch an den Wortlaut: ›Die Äthiopier besitzen das Tabutu al-Ahdi, in dem sich die beiden Steintafeln mit den Geboten befinden, die Gott für die Kinder Israels erließ. ES steht auf einem Altar.‹ Seine Darstellung dieses Tabutu al-Ahdi in Kaiser Lalibelas Palast entspricht in etwa der Beschreibung der Lade des Gesetzes im Buch Exodus.«
»O mein Gott!«, haucht Yared bestürzt und sieht mich an.
»Allerdings beschreibt Abu Salih keine Cherubim auf dem Deckel der Lade. Und auch der allerheiligste Schrein in Aksum hat keine himmlischen Wächter aus Gold, die ihre Flügel über die Schechinah breiten, die Gegenwart Gottes. Stattdessen beschrieb Abu Salih Kreuze, die an der Lade befestigt sind«, fährt der Abuna fort. »Die sieben Siegel erwähnte er nicht.«
»Sieben Siegel?«, frage ich ungläubig und stelle das Kaffeeglas zurück auf den Tisch. »Wie im Buch der Offenbarung?«
»Sieben Schlösser, die den Gottesschrein verschließen«, bestätigt Gebre Christos ernst.
»Und was geschieht, wenn die Siegel …?«
Ein leises Klopfen unterbricht mich.
Tesfa Iyasus betritt den Raum. »Bitte entschuldigt die Störung. Prinz Uthman al-Mansur wünscht den Emir zu sprechen«, verkündet er auf Arabisch. »Er wartet vor dem Portal der Grabeskirche, um ihn zum Mittagsgebet in die Al-Aqsa zu geleiten. Seine Seligkeit, der Patriarch Joachim, und der Imam Yusuf Abu Talib sind bei ihm.«
Yared wirft mir einen bestürzten Blick zu. »Wie spät ist es?«
»Eine halbe Stunde vor dem Mittagsgebet«, antwortet Tesfa Iyasus.
»Wir hätten längst wieder in der Zitadelle sein sollen«, stöhnt Yared mit einem gequälten Gesichtsausdruck, der mich erahnen lässt, was in seinem wundgedachten Verstand vorgeht. Er ist verzweifelt, denn er sieht keinen anderen Ausweg mehr, als zu konvertieren, um Tayeb und mir das Leben zu retten.
»Bitte richte dem Prinzen aus, er möge sich einen Augenblick gedulden«, wende ich mich an den Mönch. »Der Emir wird gleich kommen.«
Tesfa Iyasus schließt leise die Tür hinter sich.
Yared starrt zu Boden. Ich nehme seine Hand. Er blickt auf. Wie blass er ist! Wie traurig! Wie hoffnungslos!
»Wie immer du dich entscheidest, Yared, ich stehe zu dir«, flüstere ich und küsse ihn. »Aber ich bitte dich: Opfere dich nicht, um mir das Leben zu retten.«
Er nickt stumm und erwidert meinen Kuss. »Ich liebe dich«, haucht er. »Von ganzem Herzen.«
»Ich liebe dich auch, Yared.«
Ich wende mich an Gebre Christos, der uns mit betroffenem Gesicht beobachtet hat. »Abuna, eine Frage noch, bevor wir gehen müssen. Befindet sich das Buch von Abu Salih in der Bibliothek des griechisch-orthodoxen Patriarchats?«
Gebre Christos hebt beide Hände. »Joachim besitzt die bedeutendste Bibliothek des Heiligen Landes, wenngleich sie nur noch ein Haufen durcheinandergeworfener, zerknickter und zerrissener Pergamentcodices und Papyrusrollen ist. Aber ich nehme an, dass du das Buch dort finden kannst.«
· Yared ·
Kapitel 55
Im Hof der Grabeskirche
3. Miyazya 6945, 19. Dhu’l Hijja 848, 22. Nisan 5205
Ostermontag, 29. März 1445
Eine halbe Stunde vor dem Mittagsgebet
Vor dem Portal der Grabeskirche erwartet uns Uthman mit unseren Mamelucken. Sie haben den Hof bis zu den Stufen der Al-Omariya-Moschee abgeriegelt.
Mit verschränkten Armen steht er vor der Steinplatte, auf der Sultan Salah ad-Din nach der Eroberung von Al-Quds vor dem Grabmal des Propheten Issa kniete und betete. Uthman blickt zum Glockenturm empor. Imam Yusuf deutet nach oben zur Kuppel der Grabeskirche.
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