Der Gottesschrein
geschlossenen Augen auf dem Boden liegt. Blut quillt ihm über die Lippen und tropft auf seine Djellabiya. »Yared!«, haucht er so leise, dass ich ihn kaum verstehen kann.
Ich beuge mich über ihn.
Seine Hand tastet nach meiner Hand. »Bist du …?« Er hustet Blut. Es rinnt ihm von den Lippen in den Bart. »Du blutest.«
Ich bette seinen Kopf auf meine Knie, damit er leichter atmen kann. »Sei unbesorgt, Arslan«, beruhige ich ihn. »Das ist die Wunde, die Tristão mir letzte Nacht beigebracht hat. Es geht mir gut.«
»Al-hamdu li-llah!«, keucht er und schließt die Augen.
Ich streiche ihm über das Haar. »Sei ganz ruhig, Arslan.«
Uthman kniet sich neben mich. »Es ist vorbei. Tughan ist geflohen. Yusuf ist tot. Fünf Tote, sieben oder acht Verletzte. Die Verschwörer werden festgenommen. Du musst entscheiden, ob sie als Verräter sofort hingerichtet werden sollen«, erstattet er mir atemlos Bericht. Als er Arslans blutdurchtränkte Djellabiya öffnet, um die Wunde zu untersuchen, stöhnt er entsetzt auf.
»Uthman, sag dem Sultan … dass ich ihm … bis zu meinem letzten Atemzug … treu gedient habe«, quält Arslan hervor.
»Ich sag’s ihm«, verspricht Uthman mit bebender Stimme und drückt Arslans Hand. »Unser Vater war immer sehr stolz auf dich, mein Bruder.«
Arslan bleibt nicht mehr viel Zeit.
»Yared …« Arslan hustet und ringt japsend nach Luft. Er erstickt an seinem eigenen Blut. »Richte Yasmina aus … wie sehr ich sie … geliebt habe …« Ein Beben erschüttert seinen Körper. »… und unser ungeborenes Kind … mich so sehr … auf den kleinen Spatz … gefreut.«
»Ich weiß, mein Junge, ich weiß.« Ich wische ihm die Tränen aus dem Gesicht. Sie vermischen sich mit seinem Blut.
»Gib meinem Spatz … einen Kuss … von mir.«
Ich zögere.
Er tastet nach meiner Hand. »Yared?«
»Ich verspreche es.«
Mit einem Röcheln, das kein Ende zu nehmen scheint, bäumt sich Arslan auf, dann sinkt er in meine Arme zurück und haucht mit einem blutigen Gurgeln sein Leben aus.
Ich kann die Tränen nicht mehr zurückhalten.
Arslan, der wie ein Bruder für mich war, ist tot.
· Alessandra ·
Kapitel 56
In der Bibliothek des griechisch-orthodoxen Patriarchats
3. Miyazya 6945, 20. Dhu’l Hijja 848, 23. Nisan 5205
Ostermontag, 29. März 1445
Kurz nach zehn Uhr abends
Die Kerze vor mir auf dem Lesepult ist bis zum Ende des Dochtes heruntergebrannt. Die kleine Flamme, die sich tief ins Wachs hineingeglommen hat, verbreitet nur noch einen düsteren Schein und flackert so unruhig, dass ich kaum noch die arabischen Buchstaben unterscheiden kann. Hoffentlich bringt Athenagoras mir nach seinem Stundengebet eine neue Kerze.
Gedankenvoll streiche ich über die eng beschriebenen, tintengewellten Seiten des Buches von Abu Salih, das ich erst nach stundenlanger Suche in dem Haufen durcheinandergeworfener Folianten gefunden habe. Das feste Papier knackt leise, wenn ich es berühre.
Müde reibe ich mir die tränenden Augen und lehne mich auf dem knarzenden Sitz des Lesepults zurück. Vom Kreuzgang dringt leise der Gesang der Basilianermönche, die die Hymnen und Psalmen der Komplet anstimmen, in die Bibliothek.
Woher mochte Abu Salih sein Wissen über das Reich von Kaiser Lalibela haben? Von ägyptischen Mönchen, die vom koptischen Papst als Bischöfe nach Äthiopien geschickt wurden? Von äthiopischen Botschaftern, die von Kaiser Lalibela nach Kairo entsandt wurden, um mit dem koptischen Papst und dem ägyptischen Sultan zu verhandeln? Abu Salih ist niemals in Lalibela gewesen. Die Felsenkirchen, die der Legende nach von Engeln errichtet worden sind, hat er mit keinem Wort erwähnt. Er wusste jedoch, dass der Kaiser den Thron Davids besaß. Und das Tabot des Gottesbundes.
Da steht es! ›Die Äthiopier besitzen das Tabutu al-Ahdi, in dem sich zwei Steintafeln befinden, auf denen, durch den Finger Gottes beschrieben, die Gebote stehen, die er für die Kinder Israels erließ.‹ Abu Salih beschrieb das Tabot des Gottesbundes als einen Schrein, der mit Gold überzogen war. Auf dem Deckel waren Kreuze aus Gold zu sehen, die mit kostbaren Edelsteinen geschmückt waren.
Die sieben Siegel, von denen Gebre Christos sprach, erwähnte Abu Salih ebenso wenig wie die Cherubim, zwischen denen Gott thronte. Solomon erzählte gestern Abend, dass die Konsekration einer Kirche eine prunkvolle Zeremonie sei. Das geweihte Tabot werde in einer feierlichen Prozession ins Allerheiligste getragen. Das Wort
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