Der Gottesschrein
geheimnisvolle Schatz der Templer, der seit der Erstürmung des Pariser Tempels verschwunden ist? Stammt diese Schriftrolle aus der Tempelbibliothek von Jerusalem, die ich zu finden hoffe?
Ich kehre um und tauche zurück in die Zisterne.
»Tayeb?«, rufe ich und schwimme zu ihm hinüber.
Keine Antwort.
Wo steckt er denn? »Tayeb!«
Nur das hallende Echo von den Felswänden.
Beunruhigt rufe ich ihn erneut: »Tayeb!«
Dann: ein scharrendes Geräusch. Geröll auf Fels.
Mein Herz setzt einen Schlag aus. Panik steigt in mir hoch. Meine Hand zuckt zum Dolch unter meinem Gewand. Der Assassino! Hat er Tayeb angegriffen?
So schnell ich kann, schwimme ich zurück und verberge mich im tiefen Schatten einer Nische.
Eine Gestalt erscheint im Gang. Das Gesicht kann ich nicht erkennen, denn das Licht der Fackel blendet mich. Schimmert dort nicht weißer Stoff?
Ich halte mich am Felsen fest, luge um die Ecke und bemühe mich, kein Geräusch zu machen. Jedes leise Plätschern der Wellen könnte mich verraten. Jeder fallende Tropfen riefe ein viel zu lautes Echo hervor.
Ich kann seinen Atem hören.
»Alessandra?«
Es ist Tayeb!
»Ich bin hier!« Erleichtert schwimme ich zurück. »Wo warst du denn nur? Ich habe mir Sorgen gemacht!«
»Ich dachte, ich hätte ein Geräusch gehört – hinter mir im Gang. Ich bin zurückgekrochen und habe nachgesehen.«
»Und?«
Er winkt ab. »Nichts.«
»Ratten?« Beunruhigt blicke ich mich um.
»Gesehen habe ich keine. Was ist mit dem Gang, den du gefunden hast?«
»Er führt aufwärts. Wie weit, kann ich nicht sagen. Aber es scheint eine Verbindung zur Tempelplattform zu geben.« Dass der Gang unter der Wasseroberfläche liegt, erwähne ich nicht.
»Willst du es wagen?«, fragt er.
»Nicht ohne dich.«
Tayeb antwortet nicht.
»Es ist nicht tief«, beruhige ich ihn. »Ich halte dich fest. Du kannst nicht ertrinken.«
Trotz seiner Angst gibt er schließlich nach, bindet eine der beiden Fackeln ans Ende des Seils und lässt sie zu mir herunter. Ich erhasche sie, bevor sie im Wasser versinkt und erlöschen kann. Dann hebe ich die Hände, um die andere Fackel aufzufangen, binde sie los und schwimme zur Seite, damit Tayeb springen kann. »Und jetzt du!«
Er murmelt irgendetwas auf Arabisch – ein Gebet zu Allah? Dann lässt er sich fallen.
Hustend taucht er auf und schlägt um sich.
»Ich bin bei dir!«, beruhige ich ihn. »Halte dich mit beiden Händen an mir fest. Ja, genau so. Wir schwimmen jetzt ans andere Ende der Zisterne.« Mühsam halte ich beide Fackeln hoch.
Wenig später haben wir den versunkenen Durchgang erreicht. Ein Blick genügt – ich muss ihm nichts erklären. Tayeb stöhnt verzweifelt.
»Halt die Luft an, und lass mich nicht los. Es ist nicht weit.«
Ich lösche die Fackeln. In der Finsternis ergreife ich Tayebs Hand und führe ihn, während ich mich unter Wasser an der Wand des Ganges entlangtaste.
Wenig später haben wir es geschafft. Tropfnass und frierend steigen wir aus dem eisigen Wasser und lassen uns auf den Boden sinken.
Tayeb holt tief Luft. »Alessandra, ich …«
»Schon gut, Tayeb. Ich hatte auch Angst. Und wie!«
Wir schweigen.
Dann: ein Rascheln. Ein scharfes Kratzen. Ein Funke glimmt auf. Tayeb entfacht einen Zunder aus seiner wasserdichten Silberdose und hält ihn an eine Kerze. Der Docht ist nass geworden und zischt leise. Doch schließlich brennt er und erhellt einen Gang, dessen Wände aus Steinquadern bestehen.
Tayeb drückt mir die Kerze in die Hand und entzündet eine zweite am brennenden Docht. Dann springt er auf und rafft sein nasses Gewand um sich. »Y’allah! Wir müssen weiter!«
Nach wenigen Schritten endet der Gang in einem Haufen Geröll und Sand.
»Der Korridor ist verschüttet. Vielleicht sogar eingestürzt«, murmelt Tayeb enttäuscht und bemüht sich redlich, mich seine Panik nicht spüren zu lassen. »Ein Gewitterregen auf dem Tempelberg kann hier unten eine Katastrophe auslösen«, beurteilt er die Lage mit Blick auf den Steinhaufen vor uns. »Das Plateau neigt sich leicht nach Süden und ist von einem Labyrinth aus Kammern und Kanälen durchzogen. Das Regenwasser strömt durch diese Gänge in die Zisternen unterhalb der Al-Aqsa. Das Gewölbe vor uns ist vermutlich herabgestürzt, als die Steinquader der Wände dem immensen Druck des reißenden Wassers nicht mehr standhielten.«
Beunruhigt denke ich an das Gewitter über dem Toten Meer, an die unablässigen Blitze, die Regenwolken und die Sturmböen, die
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