Der Gottesschrein
zu den Schultern über dem Abgrund hänge. Um mich herum ist es finster wie in Dantes Inferno – ich kann nicht sehen, wohin ich springen werde. Zu beiden Seiten des Ganges taste ich nach einem Halt. Ich spanne die Muskeln an und schiebe mich mit aller Kraft vorwärts. Dann stürze ich in die Tiefe.
Im Fallen rolle ich mich zusammen, damit ich mich beim Aufprall nicht verletze. Doch in der Dunkelheit kann ich mich nicht orientieren. Schmerzhaft schlage ich mit der Schulter auf dem eisig kalten Wasser auf.
Als ich prustend auftauche, leuchtet mir Tayeb mit einer Fackel. »Alles in Ordnung?«, fragt er. »Wie tief ist das Wasser?«
»Ich muss schwimmen.«
Tayeb flucht leise. Er ist in der Sahara nahe dem Aïr-Gebirge geboren und hat das Schwimmen auch in Florenz nicht gelernt.
Als wir vor sechs Jahren aus Alexandria zurückkehrten, wo wir die verschollene antike Bibliotheca Alexandrina gesucht hatten, war die Lagune von Venedig zugefroren. Der Canal Grande war eine schimmernde Eisfläche gewesen, und ich hatte mir einen Spaß daraus gemacht, den Canalazzo entlangzugaloppieren und über die Gondeln zu springen, die festgefroren vor den Palazzi vertäut lagen. Tayeb hatte sich geweigert, ein Pferd zu besteigen, und war zu Fuß über das Eis geschlittert. Er fürchtete, einzubrechen und unter dem Eis zu ertrinken.
Ich schwimme durch die Zisterne, die dreißig Schritte lang ist und drei große Nischen nach Osten aufweist – zumindest glaube ich, dass sie nach Osten ausgerichtet sind.
Es ist so dunkel, dass ich kaum die Hand vor Augen sehen kann. Der Schein der beiden Fackeln reicht nicht bis hierher.
»Hier ist ein Gang!« Dass der Eingang drei Handbreit unter der Wasseroberfläche liegt und der Korridor bis zur Decke mit Wasser gefüllt ist, erwähne ich vorsorglich nicht. »Ich werde nachsehen, wohin er führt.«
Tayebs Antwort kann ich nicht mehr hören.
Ich tauche in die undurchdringliche Finsternis und taste mich mit angehaltenem Atem an den glitschigen Felsen entlang. Furcht schnürt mir die Kehle zu. Albträume kommen mir in den Sinn, in denen ich gejagt werde, während meine Bewegungen immer langsamer werden, bis ich schließlich von der Kälte und der Angst gelähmt feststecke und eine Flucht unmöglich ist. Nein, nur nicht daran denken!
Drei, vier, fünf Armlängen krieche ich vorwärts, dann steigt der Gang an. Eine Treppe!
Ich kann auftauchen und Luft holen. In der nachtschwarzen Dunkelheit vermag ich nicht zu erkennen, wohin die Stufen führen. Oder ob der Gang nach wenigen Schritten endet. Was nun? Wenn Tayeb mit dem Seil in die Zisterne springt, ist uns der Rückweg verwehrt. Und wenn …
Plötzlich bemerke ich einen kalten Luftzug auf meiner nassen Haut. Fröstelnd taste ich mich einen Schritt vorwärts. Jetzt kann ich es deutlich spüren. Ein leiser Windhauch weht durch den Gang. Es muss eine Verbindung zum Tempelplatz geben!
Hat der Gewittersturm Jerusalem schon erreicht?
Und noch ein anderer Gedanke beschäftigt mich: Werden wir in diesem nassen Labyrinth überhaupt noch Reste der jüdischen Tempelbibliothek finden, die die Regenfluten der Jahrhunderte nicht vernichtet haben? Nur wenn die Papyrusrollen, wie in der Antike üblich, in Tonkrügen versiegelt sind und in einer trockenen Kammer lagern …
»Habt Ihr den aramäischen Papyrus gelesen?«, hatte mich der Papst gefragt.
»Nein, Heiliger Vater. Luca hat ihn mir übersetzt, als ich ein Kind war. Nur an einen einzigen Vers kann ich mich erinnern, weil ich in jener Nacht einen Albtraum hatte: ›Und plötzlich hob mich eine starke Kraft über die Mauern von Jerusalem. Vier Engel standen in allen vier Himmelsrichtungen, jeder mit einer flammenden Fackel in der Hand. Und ein anderer Engel stieg vom Himmel herab.‹ Ich entsinne mich, dass dieser Furcht erregende Engel das Allerheiligste des Tempels betrat und den Vorhang niederriss. Davon träumte ich in jener Nacht.«
Die antike Schriftrolle lag in der Lade aus Akazienholz, die aus dem Pariser Tempel stammt. Ist jene aramäische Handschrift eine Karte, die zum legendären Schatz des jüdischen Tempels führt?, habe ich mich in Rom gefragt. Der Engel, der vom Himmel herabgestiegen war, betrat das Allerheiligste des Tempels!
Titus hat nach der Eroberung Jerusalems im Jahr 70 die Menora nach Rom gebracht, nicht aber die Bundeslade, die seit zwei Jahrtausenden verschollen ist. Die Tempelritter haben im Tempelberg gegraben. Wonach haben sie gesucht?
Ist der Papyrus selbst der
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